Ursula Mirouet, Teil III

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Es ist soweit. Zum ersten Mal liest man das tägliche Quantum Balzac, ohne darüber schreiben zu müssen. Denn das tut an diesem Tag jemand anders. Man hat sich im Vorfeld bereits über die Passage unterhalten und dabei festgestellt, wie unterschiedlich die Wahrnehmung des Textes ist.
Wo man als Routinier bei den ausufernden Beschreibungen nur noch gähnt, bisweilen auch die Bausteine identifizieren kann, die Balzac immer wieder verwendet, erfreut sich ein unverdorbener Blick an der Sprachgewalt.
Wo Judiths Markierungen meist Empathie mit den Figuren verraten, streicht man selbst nur wie ein Feldherr die Querverbindungen zu anderen Werken an. Savinien de Portenduère hofft, bei Emilie de Kergarouet oder Helene d‘Aiglemont landen zu können? Pahaha. Ein Witz für jeden, der Die Frau von dreißig Jahren und Der Ball von Sceaux gelesen hat.
Doch es geht nicht um Querverbindungen. Es geht darum, einen umfassenden Blick auf das Werk Balzacs zu werfen. Deshalb steigt man nun von seinem hohen Ross herunter und legt das Heft demütig in die Hand einer unabhängigen Instanz.

BAND 38: Ursula Mirouet, S. 100 – 150
GASTBEITRAG VON JUDITH POZNAN

Ich habe mich gefragt, ob Balzac ein Schriftsteller ist, den man im Sommer lesen sollte. Manchmal hat man ja so Bücher, bei denen man sich sicher ist, die können nur richtig wirken, wenn es abends schnell zappenduster wird, sodass einzig und allein die Seiten im Blickfeld liegen. Irgendwas vom Tag hat man zu diesem Zeitpunkt schon hinter sich gebracht, niemand ruft an, die Laune, wenn über Stunden nur graue Wolken über einen hingen, ist meistens schlechter, also liest man alte dicke Bücher, Vögel zwitschern dabei nicht und so weiter. Aber ich hatte keine Wahl, weil ich mich im Frühjahr in Clint verliebt habe und jetzt Balzac für ihn lese.

Also Juni.
Also Sommer.
Also Schicksal.

Die Ursula Mirouet habe ich mir deswegen an unterschiedlichen Orten zu unterschiedlichsten Zeiten vorgenommen. Morgens im Bett, wenn Clint gerade zur Arbeit los ist, eine halbe Stunde bevor der Sohn wach wurde. Außerdem habe ich noch ein paar Seiten auf dem Balkon probiert mit einer Dose Limo zwischen den Schenkeln. Ich schrieb Clint eine Nachricht, ich hätte mich schon länger nicht mehr so in ein Buch reinfuchsen müssen, er freute sich, dass ich mich für ihn in das Buch reinfuchse. Zufrieden schaute ich in die Luft.

Balzac am Nachmittag im Café habe ich schnell wieder sein gelassen. Cappuccino. Metallstuhl. Klotür. Am Nachbartisch heulte eine. Einmal las ich einen Absatz im Auto an einer roten Ampel. Der reiche, alte Doktor hatte gerade ein Kind adoptiert, die Ursula. Er war Vater, Mutter und Doktor zugleich, heißt es. Ein Alleinerziehender, da war ich in meinem stehenden Auto erstaunt. „Als er sich eingelebt hatte, nahm er feste Gewohnheiten an und regelte sein Leben, wie es sich überall in der Provinz regelt.“ Dann hat einer im Audi hinter mir gehupt, weil es Grün wurde.

Manchmal wird Balzac romantisch. Es geht natürlich viel um das Erbe vom guten Doktor, das die böse Verwandtschaft nicht mit der guten Ursula teilen möchte. Das habe ich alles brav gelesen. Aber gefühlt habe ich die Beziehung zwischen dem Doktor und seiner nun Teenagertochter Ursula.
Der Doktor: „Aber, mein Kind, du mußt noch mehr tun! Du mußt den Trieb deines Herzens zurückdrängen, ihn vergessen.“
Und die Ursula darauf: „Warum?“
Der Doktor, der sich immer so viele väterliche Sorgen um die Ursula macht, will ihr weismachen, sie darf nur einen Ehemann lieben. Der, in den sie sich verliebt hat, ist ein Versager und eignet sich nicht für eine Heirat. Das wird nicht gut ausgehen, meint der Doktor.
Unglück ist immer zu etwas gut!“ Ach, Ursula.
Kurz sah ich mich selbst als junges Mädchen, ebenso hoffnungsvoll. Da saß ich gerade mit meinem
Hintern in einer ruckelnden U-Bahn. Nächste Station Hermannplatz. Ein Mann telefonierte gegenüber von mir. Seine Augen flitzten durch den Wagon, dazu ein motzender Ton in seiner Stimme. „Und ick dachte, du warst schon bei der Fußpfleje.“

Spät abends auf einem Balkon, aber dieses Mal nicht meiner, sondern der von Clint, schlug ich ebenfalls schon die Lektüre auf. Da haben wir beide Balzac nebeneinander liegend gelesen, während die Kinder drinnen im Wohnzimmer die Eiskönigin geschaut haben. Draußen hörten wir dieses berühmte Lied mit, weil auf magische Weise der Fernseher plötzlich lauter wurde. Paukenschlag. „Ich lass loooos, lass jetzt looooos.“ Ich fand das so schön, Clint neben mir, die Musik, die Kinder und alles, ich konnte mich auf keinen Satz mehr von Balzac konzentrieren.

Gestern war ich traurig, bald keinen Balzac mehr mit mir rumzutragen. Nicht mehr Absätze anzustreichen, die ich eigentlich nur für Clint anstreiche, damit er später sieht, was mir gefallen hat. Oft eine Klammer mit einem Herz daneben. Mal ein trauriges Buntstiftgesicht, mal ein lachendes. Oder ein dickes Ausrufezeichen, aber so völlig rätselhaft gesetzt, in der Hoffnung Clint würde mich anrufen, um zu erfahren, warum ich da ein Ausrufezeichen dran gemacht habe.
Ich glaube, ich habe den Balzac richtig gelesen. Zu jeder Uhrzeit, an jedem Ort. Mit und ohne Trubel. Volle Tage, in einer großen Welt. So ist der Balzac ein bisschen. Zum richtigen Zeitpunkt habe ich ihn entdeckt.

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2 Gedanken zu “Ursula Mirouet, Teil III

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