Kehrseite der Geschichte unserer Zeit, Teil I

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BAND 51: Kehrseite der Geschichte unserer Zeit, S. 1 – 50

Endlich mal wieder ein echter Roman. Eine Handlung, die sich aus sich selbst aufbaut, ohne Bezüge auf andere Werke, ohne plötzlichen Sprung in eine Konversation von sieben unbekannten Personen. Es geht um einen jungen Mann namens Gottfried, der Nachname wird verschwiegen. Eigentlich soll er Notar werden, doch statt zu studieren, verprasst er lieber das Geld. Nach dem Tod seiner Eltern erbt er einiges, aber leider fehlt es ihm auch an Charakter, weshalb er nirgendwo Anschluss findet: „Klein, schlecht gewachsen, ohne Geist und ohne klares Ziel – damit war einem jungen Mann das Urteil gesprochen in einer Zeit, wo in jeder Karriere der Erfolg selbst bei höchsten Fähigkeiten noch vom Glück abhängig ist oder von der Hartnäckigkeit, die das Glück herbeiruft.“

Seine rasch schwindenden Finanzen zwingen ihn mit 28 Jahren dazu, seinen Lebensstil drastisch einzuschränken. Er bewirbt sich deshalb um eine kleine Wohnung auf der Seineinsel, hinter Notre-Dame. Wo heute eine Nacht in einem Romantik-Hotel ungefähr 1.800 Euro kostet, ist man damals völlig ab vom Schuss, praktisch nicht mehr in Paris.
Das Haus, in dem die Wohnung liegt, gehört der geheimnisvollen 60jährigen Frau de la Chanterie. Gemeinsam mit ihren vier Mietern, allesamt schweigsame alte Männer, führt sie dort ein mönchisches Leben. „Das feierliche Wesen der Frau de la Chanterie erschien ihm als die schweigende Würde, mit der sie ein großes Unglück ertrug.“
Es stellt sich heraus, dass alle Hausbewohner hochadelige Legenden sind, die auf die ein oder andere Weise unter die Räder der Geschichte geraten sind und nun darauf warten, dass ihr Geschlecht mit ihnen erlischt: „Jeder dieser Namen, meine Herren, enthält eine ganze Geschichte“ (…) „Die Geschichte unserer Zeit (…) die Geschichte von Ruinen.“

Obwohl es seinem bisherigen lifestyle vollständig widerspricht, fügt Gottfried sich bereitwillig in das Regime von Frau de la Chanterie, liest ihr zuliebe sogar täglich „Die Nachahmung Christi“. Das liegt einerseits an seiner Neugier, weil die Hausbewohner wie die Beteiligten einer Verschwörung wirken. Andererseits findet er die 60jährige auch ein bisschen heiß, was unter anderem mit dem Wissen zusammenhängt, dass sie 1,6 Millionen Francs auf dem Konto hat.

Beste Stelle:

Wenn Balzac, zur Verdeutlichung der kargen Umgebung, ein damals wohl dürftiges Mahl beschreibt: „Das Frühstück, von klösterlicher Einfachheit, bestand aus einer kleinen Steinbutte mit weißer Soße und Kartoffeln, Salat und vier Schüsseln mit Früchten: Pfirsiche, Weintrauben, Erdbeeren und grünen Mandeln; als Vorgericht Honig in der Wabe, wie in der Schweiz, Butter, Radieschen, Gurken und Sardinen.“
Man erinnert sich an den sinngemäßen Satz von Max Goldt: „Hänsel und Gretel waren so arm, dass sie den ganzen Tag Lachs-Kanappes essen mussten.“

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2 Gedanken zu “Kehrseite der Geschichte unserer Zeit, Teil I

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