Die Muse der Provinz, Teil I

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Um die Lektüre der Menschlichen Komödie nicht allein stemmen zu müssen, verfällt man auf die Idee, sich Sekundanten zu holen, die einem im Kampf gegen Balzac zur Seite stehen. Dafür deponiert man einzelne Bände bei Vertrauten und Kollegen und wartet, bis die Saat aufgeht. Auf diese Weise verbreitet man das Wort des Meisters auch effektiver. In Zukunft wird an dieser Stelle also das ein oder andere unverbrauchte Gehirn zu Wort kommen.
(Versteht sich von selbst, dass man die betreffenden Bände trotzdem liest, sonst würden sie eine ewige Lücke im eigenen Balzac-Horizont bilden. Außerdem schaut man den Vertrauten und Kollegen gern mit despotischem Charme auf die Finger.)

BAND 36: Die Muse der Provinz, S. 1 – 50

Und wieder ist der Meister wie ausgewechselt, hantiert mit einer Brillianz, dass einem der Mund offen stünde, wenn man nicht damit beschäftigt wäre, frohlockend zu grinsen. Nach dem letzten Griff ins Klo, alias Pierrette, hat man sich das auch redlich verdient. Der drittletzte Band der Szenen aus dem Provinzleben spielt in Sancerre, einem Städtchen im Loiretal, das wohlbekannte Größen wie Horace Bianchon und Etienne Lousteau zu seinen Söhnen zählt.
Die junge Baronin Dinah de la Baudraye ist nicht nur das hübscheste Ding der Gegend, sondern auch das geistreichste und modischste. Sie stellt alle andere Frauen dermaßen in den Schatten, dass die neidischen Kleinstädterinnen gehässig werden: „Dinah, die man der Pedanterie beschuldigte, weil sie korrekt sprach, bekam den Spitznamen: Sappho von Saint-Satur. Schließlich spöttelte jedermann dreist über die angeblichen großen Eigenschaften dieser Frau, (…) Wenn alle Welt bucklig ist, wird die gute Figur zu einer Ungeheuerlichkeit.“
Zum eigenen Leidwesen wurde man zwar nie Sappho von Saint-Satur genannt, doch man kennt die Zurücksetzung durch grobschlächtige Bauerntrampel, die einen verachten, weil man sich weigert, ihren archaischen Dialekt zu sprechen.

Die liebe Dinah steht jedoch zunächst über diesen Sticheleien, zumal sie von den Spitzen der provinziellen Gesellschaft vergöttert wird. Der einzige, mit dem sie es nicht so richtig aufnehmen kann, ist ihr Gatte, ein geizig, bucklig Männlein. „Herr de la Baudraye, der kleine gelbe und fast durchsichtige Mann (…), dessen Beine so dünn waren, daß er aus Anstand falsche Waden anlegte, dessen Schenkel wirkten wie die Arme eines gut gebauten Mannes, dessen Rumpf ebensogut einen Maikäfer hätte darstellen können (…)“ hält sie stur im öden Kaff Sancerre fest, wo ihr Esprit zwangsläufig verschüttgehen muss. In Paris könnte sie sich mit anderen It-Girls vergleichen und dadurch wachsen, in der Provinz macht sie sich selbst nur klein: „sie glaubte sich vor all ihren Lächerlichkeiten zu schützen, indem sie sich darüber lustig machte; aber wie es gewissen Spöttern ergeht: es blieb etwas Scharfes davon an ihrem Wesen zurück.“
Um sich zu behelfen, schreibt sie unter dem Pseudonym Jan Diaz erfolgreiche Gedichte, lässt sich auch nicht davon abbringen: „Schreiben Sie nichts mehr (…) Sie würden keine Frau mehr sein, Sie würden ein Dichter werden.“ Diesen Worten des skeptischen Dorfpfaffen zum Trotz wird sie bald zum Provinzstar, was auch daran liegt, dass Schriftstellerinnen wie George Sand und Madame de Stael gerade der letzte Schrei sind.

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2 Gedanken zu “Die Muse der Provinz, Teil I

  1. Pingback: Pierrette, Teil IV | CLINT LUKAS

  2. Pingback: Die Muse der Provinz, Teil II | CLINT LUKAS

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