Während man hart auf die Halbzeit dieses Projektes zusteuert, gerät man wieder in eine kleine Balzac-Krise. Seit 124 Tagen sitzt man mit ihm in einer Zelle, obwohl man draußen echte Bücher mit echten Deadlines beenden muss. Das wird besonders dann unerträglich, wenn er zu schwafeln beginnt und zum 75. Mal die gleiche Metapher verwendet. Jede zweite Frau gleicht entweder einem Bildnis von Raffael oder besitzt „die Eigenschaften, wie sie nur die deutschen Meister des Mittelalters darstellen konnten“. Bei Männern ist es der farnesische Hercules, zu dem zwangsläufig gegriffen wird. Man versteht nicht, warum die Einrichtung jedes Hauses beschrieben werden muss, warum es wichtig ist, aus welchen Stoffen die Klamotten der Protagonisten bestehen.
Wütend erinnert man die Kritik von Lektoren, die einem nahelegten, mehr Beschreibungen in die eigenen Manuskripte einzufügen. Wenn es das ist, was sie wollen, wird man in Zukunft beschreiben, bis ihnen schwarz vor Augen wird. Da kann Proust einpacken mit seinem verfickten Weißdornbusch und den getrockneten Lindenblüten.
BAND 35: Pierrette, S. 1 – 50
Nach zwei erfreulichen Bänden scheint es wieder undankbar werden zu müssen. Jedenfalls wird man auf den ersten Seiten von Pierrette dermaßen mit Namen bombardiert, ohne dass darin ein System oder Sinn zu erkennen wäre. Man hat auch keine Lust, jedes Mal stur die Typologien zu pauken, die der Meister da aneinander zu reihen geruht.
Darf man dem Titel Glauben schenken, wird es offenbar um eine Pierrette gehen, doch statt sie einzuführen, klärt Balzac einen erstmal über ihre Großeltern und Eltern auf, über Tanten, Onkel, die neuen Ehepartner, mit denen Großeltern und Eltern sich nach diversen Todesfällen verheiratet haben, außerdem die jeweiligen Vermögensverhältnisse. Irgendwann nach der dreißigsten Seite tauchen dann zwei Figuren auf aus dem Nebel unmotivierter Vorausgriffe und Rückblicke: Die ältlichen Geschwister Rogron, zwei pensionierte Kurzwarenhändler, die sich ein geschmackloses Häuschen in ihrer Heimatstadt Provins einrichten.
Sylvia ist eine vertrocknete, alte Jungfer, Denis ein Dämlack vor dem Herrn. An sich könnte ihre Beschreibung lustig sein, doch man ist immer noch sauer wegen des miesen Anfangs. So sehr man Balzac verehrt, gerade auch aufgrund seiner mitunter dreisten Unvollkommenheit, will man nicht jeden Tag ein Übermaß an Geduld aufbringen müssen.
Beste Figur: Keine
Beste Stelle: Nicht zu erkennen
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