Die Entmündigung, Teil I

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Mal wieder eine Nacht voller hinterhältiger Träume, nach der man völlig demoralisiert erwacht. Personen aus der Vergangenheit, die einen schlecht behandeln. Dinge, für die man sich mordsmäßig ins Zeug legt, und die dann von unbekannten Kräften sabotiert werden.
Zuerst war man Verkäufer am Currywurststand, wo man fünf Jahre des eigenen Lebens gearbeitet hat. Currywurstträume kommen genauso oft vor, wie Abiturträume, in denen man wieder in der Schule ist und sich fragt, was man dort zu suchen hat. Bei den Currywurstträumen geht es aber in der Regel um das auch in Wirklichkeit häufig auftretende Problem, dass die mobile Stromversorgung dauernd Störungen hat und man deshalb nicht genug Pommes frites für das Mittagsgeschäft vorfrittieren kann. Vor dem Tresen bildet sich eine Schlange quengelnder Kunden, was meistens zu dem luziden Moment führt, dass man sich fragt, warum man da schon wieder arbeiten muss.
Heute Nacht wollte man den Stand aber gerade erst aufbauen, als die Probleme losgingen. Die Polizei durchsuchte den Lieferwagen, es gab eine Bombendrohung, oder sie waren einfach nur übereifrig, jedenfalls verzögerte sich alles dadurch.
Dann ein Traum aus der Zeit als Stagemanager bei Paulus Manker. Das gleiche Setting, ein Theaterprojekt an den unwirtlichsten Orten der Welt zu stemmen, Transport von Equipment, Proben mit zickigen Schauspielern. Nur dass der Chef nicht Paulus Manker war, sondern der Protagonist des aktuellen Biographie-Projekts. Man war wie immer hochmotiviert. Doch jedes Mal, wenn alles lief, wie es sollte, wenn die Premiere gerettet schien, kamen neue renitente Mitarbeiter dazu, die man einarbeiten musste. Es war wie beim Bachelor, wenn in der fünften oder sechsten Folge plötzlich zwei neue Kandidatinnen in die Villa einziehen. Sehr unerfreulich.
Nach mehreren Wellen solcher Kafka-Schlossgehilfen kam endlich der große Abend. Doch dann brach ein Feuer aus, die anrückende Feuerwehr bestätigte den Verdacht der Brandstiftung. Man war frustriert und beschuldigte einen der Mitarbeiter, absichtlich einen Kurzschluss verursacht zu haben. Daraufhin wurde man vor der gesammelten Mannschaft gerügt, dass die Vorwürfe voreilig wären und man das Arbeitsklima damit vergiften würde.
Und nach sowas soll man dann frisch und puppenlustig in den Tag starten.

BAND 23: Die Entmündigung, S. 1 – 43

Als kleinen Trost schenkt Balzac einem dann erneut eine Erzählung, die man am liebsten im Ganzen zitieren würde, so fetzig ist sie. Wieder spielt der Arzt Horace Bianchon eine Hauptrolle, zusammen mit seinem alten Buddy Rastignac kommt er gerade aus dem Palais der Marquise d‘Espard. Während sie die nächtliche Straße entlang spazieren, schimpft Bianchon über den Charakter der Salonkönigin: „Höre! Diese gebrechliche Frau mit ihrem weißen Teint und ihrem kastanienbraunen Haar, die klagt, um sich beklagen zu lassen, hat eine eiserne Gesundheit, einen Wolfsappetit und die Kraft und die Feigheit eines Tigers. Niemals haben Gaze, Seide und Musselin eine Verlogenheit geschickter umwickelt. Ecco.“
Rastignac, der mit dem Gedanken spielt, eine Affäre mit der mächtigen Marquise anzufangen, hält dagegen. Vor allem gegen Bianchons bürgerliches Ideal des ehrlichen, liebevollen Mädchens: „Deine Frau voll Liebe führt zu nichts, eine Frau der großen Gesellschaft zu allem, sie ist der Diamant, mit dem ein Mann alle Fensterscheiben durchschneiden kann, wenn er nicht den goldenen Schlüssel besitzt, vor dem sich alle Türen öffnen. Den Bourgeois bleiben alle bourgeoisen Tugenden, den Ehrgeizigen die Laster des Ehrgeizes.“

Grund für ihren Besuch ist ein Entmündigungsprozess, den die Marquise gegen ihren Gatten anstrebt. Da Bianchons Onkel der mit dem Fall beauftrage Richter ist, soll der ein gutes Wort bei ihm einlegen. Zwar hat er darauf nicht die geringste Lust, doch auf Drängen von Rastignac gibt er nach: „…wenn es sich um dich handelt, würde ich Wasser aus der Hölle holen…“
Nun wird ausführlich der besagte Onkel eingeführt, Popinot mit Namen, eine Art Gegenfigur zum kriminellen Genie Jaques Collin alias Todtäuscher. Vollkommen unbestechlich, arm wie ein Kutscher, ebenso streng wie gnädig, hat es sich Popinot zum Hobby gemacht, neben seiner kräftezehrenden Arbeit bei Gericht die Mutter Teresa seines Viertels zu werden. Jeden Morgen stehen zweihundert Bittsteller vor seiner Tür, verarmte Arbeiter, entlassene Sträflinge, Diebe und Lumpen, über die er ausnahmslos bescheid weiß und wacht. Sollte das Ansinnen der Marquise d‘Espard also ein krummes Ding sein, hat sie in Popinot ihren ultimativen Endgegner gefunden.

Es folgt eine lange Szene, in der Bianchon und Popinot die Akte studieren, in der die Marquise die Entmündigung fordert. Tatsächlich wirkt das Verhalten ihres Gatten etwas spinnert, lebt er doch seit einer Weile mit den gemeinsamen Söhnen in völlig unstandesgemäßer Armut. Sein gesamtes Geld schenkt er einer hässlichen Alten und ihrem Sohn, wohl schon über eine Million Franken, beschäftigt sich nur noch mit der Kultur Chinas, wähnt sich zeitweise sogar im fernöstlichen Reich. Für Bianchon steht schnell fest, dass das Ersuchen zur Entmündigung gerechtfertigt ist. Doch Popinot, dessen Mund „wie bei allen Arbeitenden, zusammenkniffen wie eine Börse, deren Schnüre zusammengezogen sind“ ist, behält einen kühlen Kopf: „Aber mir scheint (…) daß, wenn jemand von meinen Verwandten sich der Verwaltung meines Vermögens bemächtigen wollte, und wenn ich, statt ein einfacher Richter, ein Herzog und Pair wäre, ein etwas gerissener Anwalt wie Desroches eine ähnliche Klage gegen mich einleiten könnte.“
Er verspricht, am nächsten Abend mit zur Marquise zu kommen, um das Rätsel zu lösen. Mal sehen, ob man schlafen kann, bei soviel Vorfreude und Aufregung.

Beste Stelle:

Wenn Bianchon mit der Gnadenlosigkeit des Mediziners erklärt, wie man das Alter einer Frau bestimmen kann: „Wenn du Interesse daran hast, mein Lieber, das Alter einer Frau zu erfahren, dann sieh dir ihre Schläfen und ihre Nasenspitze an. Was auch die Frauen mit ihren kosmetischen Mitteln anfangen mögen, sie können diese untrüglichen Zeugen ihres bewegten Lebens nicht verwischen. Hier hat jedes weitere Jahr sein Mal hinterlassen. Wenn die Schläfen einer Frau gewissermaßen mürbe, runzlig und welk geworden sind, wenn sich an ihrer Nasenspitze jene kleinen Pünktchen zeigen, die den kaum wahrnehmbaren dunklen Stückchen in den Londoner Kaminen, in denen Steinkohle gebrannt wird, gleichen, dann kannst du sicher sein, daß die Frau die Dreißig überschritten hat.“

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2 Gedanken zu “Die Entmündigung, Teil I

  1. Pingback: Die Messe des Gottlosen | CLINT LUKAS

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