So, und nun ist es einem doch auf die Füße gefallen. Die ganze Zeit über hatte man schon ein schlechtes Gewissen, weil man in den Beiträgen über Père Goriot nichts über das Schicksal der Vicomtesse de Beauséant geschrieben hat. Dabei war das ein faszinierender Handlungsstrang. Mitunter geht einem die Pflicht zur vollständigen Inhaltsangabe eben doch auf die Nerven, vor allem, wenn soviel gleichzeitig passiert.
Jedenfalls ist der Niedergang des alten Goriot nicht der einzige Grund, aus dem Rastignac den Glauben an die Menschheit verliert. Und mit seiner Gönnerin Frau de Beauséant kann man sogar mitfühlen, weil sie nicht so übergeschnappt ist wie der Nudelfabrikant. Aufrichtig verliebt in ihre Affäre, den Marquis d’Ajuda-Pinto, wird sie schon das ganze Buch über mit dem Gerücht gequält, dass er bald eine andere heiraten wird. Und ausgerechnet auf einem ihrer Bälle, zu dem sie den gesamten Faubourg Saint-Germain einlädt, wird es endgültig bestätigt. Im Grunde kommen die Gäste nur, um sich an ihrem Elend zu ergötzen. Das sie sich als echte Aristokratin natürlich kein bisschen anmerken lässt.
Der einzige, dem sie ihr Herz ausschüttet, ist Rastignac. Ihm vertraut sie die Aufgabe an, ihre Liebesbriefe von d’Ajuda-Pinto zurückzufordern, die sie dann vor seinen Augen verbrennt. Sie verlässt Paris auf dem Höhepunkt ihrer Schönheit, mit gebrochenem Herzen, um nie mehr zurückzukehren. Das ist schade, weil sie wirklich eine Wucht ist. Doch wenn der Prophet nicht zum Berg kommt, muss der Berg eben zum Propheten kommen…
BAND 21: Die Verlassene, S. 1 – 29
Im Jahr 1822 wird der junge Baron Gaston de Nueil zur Kur in die Normandie geschickt, weil er es in der Hauptstadt zu wild getrieben hat. Als Sprössling aus gutem Hause wird er natürlich auch in der Provinz in den besten Salons empfangen, dort herrschen allerdings nicht Esprit und Genuss, sondern tödliche Langeweile. Man fühlt sich an Prousts Salon der Madame Verdurin erinnert, dessen Protagonisten ja auch in erster Linie damit beschäftigt sind, sich gegenseitig in ihrer Piefigkeit zu übertreffen.
In dieser öden Atmosphäre ist es verständlich, dass Gaston bei der Erwähnung von Frau de Beauséant hellhörig wird. Nach ihrem Sturz ist sie nämlich ins nahegelegene Bayeux gezogen, wo sie seither vollständig isoliert lebt. Gaston lässt sich zum üblichen Balzac-Move hinreißen und verknallt sich unbekannterweise in sie. Tagelang streift er um ihr Haus herum, lässt sich schließlich offiziell bei ihr einführen. Vor dem Date ist er nervös: „Auf seine Toilette verwandte er besondere Sorgfalt. Wie alle jungen Leute bildete er sich ein, sein Erfolg hänge von einer mehr oder weniger gut gelegten Locke ab, er wußte nicht, daß die Jugend selbst voller Charme und Reiz ist.“
Wer kennt sie nicht, diese letzten Handgriffe vor einer Verabredung. Als junges Ding war man auch immer besorgt über die eigene Angewohnheit, an den Innenseiten seiner Backen zu kauen, bis sie wund waren. Man dachte, wenn es zu einem Kuss käme, würde man die Übertragung von Krankheiten riskieren. Glücklicherweise kam es nie zu einem Kuss.
Als Gaston endlich auf seinen Schwarm trifft, ist er beeindruckt: „Sie hatte eine vornehme Stirn, die Stirn eines gefallenen Engels, der auf seine Sünde stolz ist und keine Verzeihung will.“ Freilich durchschaut sie auf einen Blick seine amourösen Absichten und will ihn direkt vor die Tür setzen. Seine Jugend und Naivität rühren sie dann wieder, sie entspannt sich und entfaltet ganz automatisch ihre göttliche Noblesse. Gaston ist davon so geflasht, dass er irgendwann sein Unverständnis darüber äußert, wie eine Frau wie sie von einem Mann verlassen werden konnte.
„Die Vicomtesse blieb stumm. Gaston wurde rot, er glaubte, sie beleidigt zu haben, aber sie war durch das erste echte und tiefe Vergnügen, das sie seit dem Tage ihres Unglücks empfand, angenehm überrascht. (…) Durch diesen Ausruf wurden all ihre Wünsche erfüllt, nach der Verzeihung der Welt, nach Sympathien, nach gesellschaftlicher Achtung, die sie so sehr ersehnt und die man ihr so grausam versagt hatte;“
Das gebrannt Kind ist bereit, auf ein Neues mit dem Feuer zu spielen. Man kann nur hoffen, dass sie es nicht bereuen wird.
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