BAND 20: Noch eine Frauenstudie
Man befindet sich beim Souper der Madame des Touches, eine Art allstars-Versammlung der vornehmsten Aristos, die Paris in den verbürgerlichten 1830ern noch zu bieten hat. Rastignac ist da, Delphine und der Baron von Nucingen sind da, Diane de Maufrigneuse, Daniel D’Arthez und viele andere. Im Mittelpunkt der illustren Runde steht Henri de Marsay, den man gerade erst in Der Ehekontrakt kennengelernt hat. Er gibt die Liebesgeschichte zum Besten, die ihn vom jungen Romantiker zu dem zynischen Minister gemacht hat, der er inzwischen ist. Seine damalige Angebetete Charlotte „war eine Dame der vornehmen Welt, eine kinderlose Witwe, (oh, alles stimmte!), sie hatte sich eingeschlossen, um in meine Wäsche mein Monogramm mit ihrem Haar zu sticken;“ Das ist doch mal eine Art von Hingabe, die zu Unrecht in Vergessenheit geraten ist.
Aus Vornehmheit halten die beiden ihre Affäre geheim, was am leichtesten zu bewerkstelligen ist, indem sie sich Scheinaffären zulegen. Eines Morgens fühlt de Marsay sich krank, sagt seinen Besuch bei Charlotte ab, überlegt es sich dann anders und fährt doch zu ihr. Dabei stellt er fest, dass sie Besuch von ihrem Pseudo-Lover empfängt, der dann wohl doch nicht so pseudo ist. „Ich muß Ihnen gestehen, Othello erschien mir stets nicht nur albern, sondern auch geschmacklos. Nur ein halber Neger kann so handeln. Shakespeare war sich darüber klar und hat deshalb sein Stück ,Der Mohr von Venedig‘ genannt.“
Trotzdem fragt de Marsay später scheinheilig, ob Charlotte in seiner Abwesenheit allein war, was sie beteuert. Als er dann auch noch durch Zufall feststellen muss, dass die Monogramme in seiner Wäsche gar nicht aus ihrem eigenen Haar bestehen, sondern in einem Atelier angefertigt wurden, das auf solche Totems spezialisiert ist, bricht für ihn die Welt zusammen: „Ja, ich empfand, wie eine kalte Knochenhand mir das Leichentuch der Erfahrung umlegte“.
Als Mann der Tat schläft er postwendend mit seiner eigenen Scheinaffäre, konfrontiert Charlotte damit und macht Schluss. Auf ihre Einwände, dass es sich um ein Missverständnis handelt, reagiert er nicht mehr, für ihn steht fest, dass er keiner Frau mehr vertrauen wird.
An der Stelle schalten sich andere Teilnehmer in die Konversation ein. Emile Blondet erläutert über einige zwanzig Seiten den Unterschied zwischen vornehmen und bürgerlichen Frauen, dann gibt der General Montriveau eine Story aus dem Russlandfeldzug zum besten. Man merkt beim Umblättern, dass das Ende der Geschichte immer näher rückt, ohne dass aufgeklärt wurde, ob Charlotte nun untreu war oder nicht. Scheinbar ist das auch nicht so wichtig, es ging de Marsay ums Prinzip. Ein gefühlter Vertrauensbruch ist auch ein Vertrauensbruch. Oder man ist zu blöd, um die Wahrheit zwischen den Zeilen zu finden.
Beste Stellen:
Montriveaus Bonmot über Napoleon: „Diesem Mann hat die Natur ein Herz in einem stählernen Körper gelassen; unter Frauen war er um Mitternacht zum Scherzen bereit, am Morgen hat er dann mit Europa gespielt wie ein junges Mädchen, dem es plötzlich einfällt, das Wasser in seiner Badewanne zu peitschen.“
Emile Blondets Bonmot über die bürgerliche Frau: „Die Bürgersfrau tut sehr geschäftig, ist bei jedem Wetter unterwegs, sie kommt und geht, feuerwerkt mit den Augen, bleibt unentschlossen vor einem Geschäft stehen, weiß nicht, ob sie hineingehen soll oder nicht. Während die vornehme Dame genau weiß, was sie will und was sie tut, ist die Bürgersfrau unentschieden, sie hebt ihr Kleid hoch, um über eine Pfütze zu gehen, schleppt ein Kind hinter sich her, das sie zwingt, auf Wagen zu achten; auch auf der Straße ist sie Mutter und spricht mit ihrer Tochter; sie hat Geld in ihrem Marktkorb und trägt durchbrochene Strümpfe;“
Höchste Zeit, mit der eigenen Tochter auf den Kollwitzmarkt zu fahren, um all die Bürgersfrauen zu beobachten, die sich dort schamlos herumtreiben, mit ihren durchbrochenen Strümpfen.
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