Aus gegebenem Anlass muss man ein Stück aus dem eigenen, unveröffentlichten Roman „Bekennerschreiben“ zitieren. Im heutigen Balzac-Abschnitt kommen nämlich die Venediger Pferde vor, womit diejenigen gemeint sind, die über dem Portal der Markus-Basilika stehen. Man hat ein spezielles Verhältnis zu diesen Pferden, ebenso wie der liebe Freund Stefan aus Wien.
„Die Pferde von San Marco wurden angeblich vor etwa zweitausend Jahren in Rom gefertigt. Stefan nimmt jedoch an, dass sie dort einen Triumphbogen schmückten, ein Indiz dafür, dass sie ein Beutestück aus Griechenland sind, also wesentlich älter. Im fünften Jahrhundert wurden sie nach Konstantinopel gebracht, standen dort für 700 Jahre im Hippodrom. Als die Stadt während des Vierten Kreuzzuges geplündert wurde, nahmen die Venezianer auch die Pferde mit, stellten sie später auf das Portal ihrer Basilika. Ende des 18. Jahrhunderts warf Napoleon ein Auge darauf, ließ sie nach seinem Einmarsch nach Paris bringen, musste sie dann infolge des Wiener Kongresses an Venedig zurückgeben.
In der Wiener Staatsoper wiederum fand 150 Jahre später eine Inszenierung von Mozarts Don Giovanni statt. Das Bühnenbild orientierte sich an einem barocken Lustgarten, mit steinernen Balustraden, Treppen, sowie einer lebensgroßen Pferdestatue. Für gewöhnlich werden solche Kulissen nach Spielende eingelagert, später skartiert, also vernichtet. Allerdings blieb dem Pferd dieses Schicksal erspart. Es wurde zusammen mit anderen ausgewählten Stücken als Sachspende dem LIFE BALL geschenkt, wo es fortan die Bühne zierte. Wahrscheinlich hätte es dort sein Ende gefunden, als dankbarer Blickfang, jedes Jahr mit einem wechselnden, zum Motto passenden Anstrich versehen. Doch dann kam Stefan. Und erkannte auf einen Blick, dass es sich bei dem unscheinbaren Tier um einen originalgetreuen Abguss des zweiten San Marco Pferdes von links handelt, um den Klon eines zweieinhalb Jahrtausende alten Schlachtrosses.“
Versteht sich von selbst, dass es heute in Stefans Garten steht. Wie es dort hinkam, schreibt man hier lieber nicht, weil der Tatbestand noch nicht verjährt ist.
BAND 10: Die Frau von dreißig Jahren, S. 1 – 50
Die Handlung beginnt in den Tuileriengärten, wo gleich eine Parade zu Ehren des Kaisers abgehalten werden soll. Vermutlich eine der letzten: „Zwei Tage darauf sollte Napoleon zu jenem schicksalsvollen Feldzug aufbrechen, in dessen Verlauf er (…) die schreckliche Schlacht bei Leipzig liefern sollte.“ Der Anfang vom Ende also. Doch noch ist der Ruhm ungebrochen (wenn man vom kleinen Debakel in Russland absieht) und um ihn zu illustrieren, wurden die erbeuteten San Marco Pferde auf einen eigens errichteten Triumphbogen gepflanzt. Okay, genug jetzt von den Pferden.
Die junge Julie de Chatillonest ist mit ihrem greisen Vater gekommen, um die Parade zu sehen. Dabei geht es ihr weniger um die Show, als um den schneidigen Kavallerieoberst Victor d’Aiglemont, dem sie schöne Augen macht. Der Vater kriegt es mit und warnt: „Arme Julie, du bist noch zu jung, zu schwach, zu zart, um die Mühen und Plagen einer Ehe zu ertragen. D’Aiglemont wurde von seinen Eltern verwöhnt, ebenso wie du von deiner Mutter und mir. Wie dürfte man hoffen, daß ihr beide euch verstehen würdet, jedes mit einem Willen begabt, dessen tyrannische Wünsche unduldsam sind? Du würdest Opfer oder Tyrann sein.“
Etwa ein Jahr später sitzt Julie mit ihrem Obersten in einer Kutsche nach Tours. Offenbar hat sie nicht auf ihren Vater gehört, ahnt aber bereits, dass er recht hatte. Jedenfalls wirkt sie apathisch und düster. Nicht mal ein vorbeireitender Engländer kann ihr Interesse wecken. Dieser jedoch entflammt in der Balzac-typischen spontanen Selbstentzündung, ein Blick reicht: „Trotzdem dieser sehr kurz war, genügte er, um ihn den melancholischen Ausdruck bewundern zu lassen, der dem gedankenvollen Gesicht der Gräfin eine unbeschreibliche Anziehung gab. Es gibt viele Männer, deren Herz schon durch den Anblick des Leidens bei einer Frau mächtig erregt wird.“
Been there, done that.
Um Julie vor dem Krieg zu schützen, schließlich tobt dieser inzwischen in Frankreich, bringt Victor sie zu seiner Tante, Frau von Listomère. Die erkennt schnell, was die junge Braut bedrückt. Es sind die Triebe ihres Gatten, „er kommt zu oft zu mir.“ Sie liebt den Oberst, fände es aber am besten, seine Schwester zu sein. Die Tante kann das verstehen: „Mein Neffe, der Tollpatsch, hat ein solches Glück ja gar nicht verdient. Wenn zuzeiten der Herrschaft unseres vielgeliebten Ludwig XV. eine junge Frau sich in deiner Lage befunden hätte, hätte sie sehr bald ihren Herrn Gemahl für solch landsknechtsmäßiges Benehmen bestraft.“
So sehr man die Tirade der Tante feiert, ahnt man doch, dass Julie damit langfristig nicht geholfen ist. Die steigert sich dadurch nämlich noch mehr in ihren Glauben an die rein ideelle Liebe hinein. Bisher ist sowas im Balzac-Kosmos nie gut ausgegangen.
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