Entschleunigende und aktivierende Effekte nach zwei Wochen und 753 Seiten Balzac:
– man rechnet das Jahreseinkommen nicht mehr nach Monatsgehältern und Nebenverdiensten aus der selbstständigen Tätigkeit ab, sondern nach der Rente, die einem die Ländereien bei Auvers-sur-Oise einbringen.
– man trinkt im Bierbrunnen nur noch alkoholfreies Weizenbier, damit man die Konzentration nicht verliert, die erforderlich ist, um bei der stetig wachsenden Anzahl von Grafen und Duchessen den Überblick zu behalten.
– man schläft weniger und trinkt mehr Kaffee.
– zeitgenössische Romane, die man parallel zur „Comedie humaine“ liest, fliegen mit derselben Kurzlebigkeit vorbei, die ein Menschendasein im Gedächtnis einer alten Eiche hat.
– man fragt vorsichtig beim König nach der Erlaubnis, ein eigenes Wappen führen zu dürfen, notfalls auch eines mit Bastardfaden.
– man beklagt das Ende des Feudalwesens, wenn man in der U8 sieht, wohin zweihundert Jahre Liberté, Egalité, Fraternité die Menschheit gebracht haben.
BAND 5: Modeste Mignon, S. 201 – 250
Canalis und Ernest treffen in Le Havre ein. Bereits jetzt legt der Dichter es darauf an, seinen Sekretär zu übertrumpfen, denn Modeste erscheint ihm durch ihr Millionenerbe nun doch ziemlich begehrenswert. Noch bevor sie bei den Mignons vorsprechen können, erfahren sie von einem dritten Bewerber: „Seine Durchlaucht, den Herzog von Hérouville, Marquis von Saint-Sever, Herzog von Nivron, Grafen von Bayeux, Vicomte von Effigny, Pair von Frankreich, Ritter des Sporenordens und des Goldenen Vlieses, Granden von Spanien, Sohn des letzten Gouverneurs der Normandie und Großstallmeister von Frankreich.“
Modeste ist derweil schwer abgeturnt von den Entwicklungen und der Schadenfreude ihres Vaters. „Sie faßte einen tiefen Ekel gegen die Männer, weil die Ausgezeichnetsten unter ihnen ihre Hoffnungen getäuscht hatten. (…) Sie nahm sich vor, vor allem Herrn de la Brière [Ernest] beständig zu demütigen.“ Der sieht dem Wiedersehen furchtsam entgegen, weil er glaubt seine Chance verspielt zu haben. Und sogar Canalis ist befangen, denn wir erfahren, dass er seit zehn Jahren der Toyboy der Herzogin von Chaulieu ist (die Mutter von Louise aus Zwei Frauen), deren Gunst er durch seinen Ausflug zu verspielen droht.
Natürlich ist seine Eitelkeit trotzdem so groß, dass er vor Modeste am Abend wie ein Poetry Slammer auftritt: „allzu gefälliges Lob hatte ihn zu Übertreibungen veranlaßt, denen weder der Dichter noch der Schauspieler widerstehen konnte, und so sagte man von ihm (…), er deklamiere nicht, sondern röre seine Verse, so sehr zog er die Töne, sich selbst zuhörend.“
Über sein unerträgliches Geschleime sieht Modeste großzügig hinweg, denn „sie will sich dadurch an dem falschen Canalis rächen, daß sie versucht, den wahren Canalis zu lieben.“ Der wähnt sich dem Sieg so nahe, dass er schon mit seiner Herzogin in Paris brechen will. Ernest sieht derweil seine Felle wegschwimmen. Schließlich stellt sich noch der königliche Großstallmeister Hérouville vor und kann ebenfalls bei der kleinen Mignon punkten. Man hat direkt Susis Stimme von Herzblatt im Ohr: So, Modeste, jetzt musst du dich entscheiden.
Beste Stellen:
„Ach! weder die Männer noch die Frauen haben Freunde, die sie warnen würden, wenn der Duft ihrer Bescheidenheit ranzig wird, wenn die Liebkosung ihres Blickes Theater wird, wenn der Ausdruck ihres Gesichtes Grimasse wird und die Kunststücke ihres Geistes den verrosteten Mechanismus sehen lassen.“
„Der Pariser wundert sich, wenn nicht alles so ist wie in Paris, und der Franzose, wie in Frankreich. Der gute Geschmack besteht darin, daß man sich den Umgangsformen der Fremden anpaßt, ohne darum zuviel von seinem eigenen Charakter aufzugeben, wie es Alcibiades tat, dies Muster eines Gentleman.“
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