Wieder sitzt man im ICE, nachdem man seine siebenjährige Tochter von einer Woche Ferien bei ihren Großeltern in der Pfalz abgeholt hat. Auf dem Sitz vor einem ein japanischer Herr, der ein Zoom-Meeting nach dem anderen über sein Tablet moderiert. Immerhin hat man diesmal ein zweites Paar Kopfhörer dabei, weil das Kind das erste braucht, um „Die Eiskönigin 2“ zu schauen. Zu dem beruhigenden Geschrei des dritten Aktes von „Boris Godounov“ betrachtet man die Skyline von Frankfurt/Main.
Es ist immer merkwürdig, in die provinzielle Heimat zu fahren, wenn man seit fast zwanzig Jahren in Berlin wohnt. Gerade erst hat man einen Jugendroman geschrieben, der dort spielt. In Neustadt an der Weinstraße. Zu einer Zeit, als Euro und Dosenpfand eingeführt wurden. Und man als Jugendlicher in der Antifa war und so gut wie jedes Wochenende durch den Südwesten gegurkt ist, um Naziaufmärsche zu blockieren, in Kaiserslautern und Ludwigsburg und Trier und Heidelberg. In Heidelberg waren es meistens Burschenschaften, die mit ihren Fackeln marschierten, und es war immer das Ziel, eine ihrer Mützen zu ergattern.
Seitdem man das Buch geschrieben hat, ist es noch seltsamer, an die alten Orte zurückzukehren. Weil sie nun nicht nur der Erinnerung angehören, sondern auch einem selbst geschaffenen Kosmos. Man geht dann nicht mehr daran vorüber und sagt sich, da habe ich früher immer Bier getrunken, sondern auch: Dort spielt eine Szene meines Romans. Beides verstärkt das Gefühl, dass man alt wird.
BAND 5: Modeste Mignon, S. 51 – 101
Nun erfährt man das Geheimnis von Modestes Schwarm: Sie liebt das Genie. Unterrichtet in Englisch, Deutsch und Französisch liest sie pausenlos: Walter Scott, Goethe, Rabelais. Sie spielt in der Phantasie verschiedene Szenarien ihres kommenden Lebens durch, lässt sich von einem Ritter entführen, vegetiert demütig als brave Ehefrau an der Seite eines Notars. Schließlich wählt sie ihren Weg: „Modeste wollte die Gefährtin eines Künstlers, eines Dichters, kurz eines die Menge überragenden Mannes sein. Aber sie wollte ihn wählen und ihm erst dann ihr Herz, ihr Leben, ihre unsagbare, ihre geläuterte Zärtlichkeit schenken, wenn sie ihn von Grund auf geprüft hätte.“
Wieder diese Prüfungen. Aber man kann hoffen, dass sie sich diesmal nicht an die sklavische Treue des Verehrers richten wird, wie bei „Zwei Frauen“, sondern an die künstlerische Größe. Bis Modeste den Auserwählten trifft, widmet sie sich demütig dem Haushalt und der Pflege ihrer Mutter, denn: „Alle großen Geister zwingen sich zu irgendeiner mechanischen Arbeit, um Meister über den Geist zu werden: Spinoza schliff Brillengläser, Bayle zählte die Ziegel auf den Dächern, Montesquieu gärtelte.“ Und andere lesen 16.000 Seiten Balzac.
Die Lektüre wird spaßig, denn Modeste wählt sich für ihre Anbetung ausgerechnet den Dichter Canalis, den Balzac über mehrere Seiten genussvoll als verhätschelten Kretin beschreibt. Canalis wird von den großen Damen der Gesellschaft hofiert, ist maßlos erfolgreich, dabei aber vollkommen weichgespült und talentfrei: „Diese gefälligen, schlichten, zärtlichen Stücke, diese beruhigten, eisklaren Verse, diese einschmeichelnde, frauenhafte Poesie hatte zum Urheber einen kleinen Streber, der, in seinen Frack eingezwängt, aufgemacht wie ein Diplomat, von politischem Einfluss träumt, (…) Seine Leier hat nicht sieben Saiten, sondern nur eine, und da er nun einmal darauf gespielt hatte, so ließ ihm das Publikum nur die Wahl, weiter auf ihr zu spielen bis zum Überdruß, oder zu schweigen.“
So eine Art Paolo Coelho der Restaurationszeit also.
Modeste schreibt ihm einen anonymen Brief, der Canalis jedoch völlig kalt lässt. Zu gut weiß der Routinier, dass hinter einem blind date selten ein Hauptgewinn steckt. Vor allem, weil fast alle Groupies die falschen Erwartungen haben. „(…) alle diese Frauen haben, selbst wenn sie ganz aufrichtig sind, ein Ideal, dem man selten entspricht. Sie sagen sich nicht, daß der Dichter ein ziemlich eitler Mensch ist (…); sie können sich nie vorstellen, wie ein Mann durch diese fieberhafte Aufregung mißhandelt wird, die ihn unangenehm und launisch macht; sie wollen ihn immer nur groß, immer nur schön haben (…) Und warum also soll man schlechte Komplimente angeln, um dann die kalten Duschen zu kriegen, die der verdutzte Blick einer enttäuschten Frau ausschüttet?“
Davon kann man auch ein Lied singen. Hätte man für jede enttäuschte Frau, die mit ihrem verdutzten Blick kalte Duschen über einem ausschüttete, einen Euro bekommen, man wäre längst saniert.
Canalis gibt den Brief an seinen jungen, idealistischen Sekretär weiter, einen gewissen Ernest de la Briére. Der ist davon so gerührt, dass er im Namen seines Herrn antwortet. Es entwickelt sich eine Art Schachpartie, bei der jeder etwas über den anderen herauszufinden versucht, ohne sich selbst zu verraten. Ernest reist heimlich nach Le Havre und verliebt sich. Modeste ist von seinen Briefen sehr angetan, hält ihn jedoch für den Dichter Canalis. Hier endet die heutige Lektüre.
Pingback: Modeste Mignon, Teil I | CLINT LUKAS
Pingback: Modeste Mignon, Teil III | CLINT LUKAS