Modeste Mignon, Teil I

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Heute zum ersten Mal Zweifel, ob diese Textmasse überhaupt zu bewältigen ist. Das mag auch an der Orientierungslosigkeit liegen, mit der man sich zwangsläufig durch die ersten Seiten eines Romans tasten muss. Modeste Mignon ist dabei besonders verwirrend, weil man als Leser mitten hineingeworfen wird in eine Verschwörung. Bevor jedoch erklärt wird, worum es eigentlich geht, folgen erstmal lange Beschreibungen der zehn, in Worten ZEHN, beteiligten Personen. Biographische Abrisse, wie sie die Jahre 1789 bis 1826 zugebracht haben. Revolution, Napoleon, Russlandfeldzug, Hundert Tage, Waterloo, Gefangenschaft, Todesfälle, Heiraten, Reichtum und Ruin. Plus die Verstrickungen, durch die die Figuren miteinander verbunden sind. Das alles auf knapp 29 Seiten. Und während man im ICE von Berlin nach Mannheim sitzt und von schreienden Kindern belagert wird.
Man hasst es, Texte zusammenzufassen. Man könnte sagen, man hat eine Phobie vor Textzusammenfassungen. Ein Exposé mit Synopsis zu schreiben, stellt eine nahezu unlösbare Aufgabe dar. Romane fallen einem leichter. Und doch erfordert diese Balzac-Aufgabe zumindest rudimentäre Abrisse, weil man sich ständig in neuen Plots befindet.
Wobei sich langsam bestimmte Muster abzeichnen. Wieder gibt es eine junge Protagonistin, deren Antlitz mit Raffael in Verbindung gebracht wird. Wieder gehört sie einer Familie an, die durch die Wirren der Geschichte enteignet wurde. Wieder liebt sie einen geheimnisvollen Fremden. Es stellt sich die Frage, ob Balzac bei 91 eilig geschriebenen Büchern überhaupt viel variieren konnte. Oder ob sich die Motive schlagartig ändern werden, wenn man von den „Szenen aus dem Privatleben“ zu den „Szenen aus dem Provinzleben“ voranschreitet. Sind ja nur noch circa zwanzig Bände.

BAND 5: Modeste Mignon, S. 1 – 50

Die junge, hübsche Modeste lebt mit ihrer Mutter in einem Haus auf einer Klippe in Le Havre. Immerhin mal ein anderer Schauplatz als Paris. Ihre drei Geschwister sind alle schon gestorben, worüber die Mutter vor Gram erblindet ist. Der Vater ist nach einem Bankrott nach Konstantinopel emigriert, um wieder reich zu werden. Er hat seinem treuen Kassierer und ehemaligen Waffengefährten Dumay aufgetragen, in seiner Abwesenheit über Modestes Keuschheit zu wachen: „Dumay! bewahre mir mein letztes Kind, wie es mir ein Kettenhund bewahren würde. Den Tod jedem, der versuchen sollte, meine Tochter zu verführen! Fürchte nichts, selbst nicht einmal das Schafott, ich werde dort zu dir stehen!“
Die Mutter spürt jedoch an den Wallungen ihrer Tochter, dass sie verliebt sein muss. Dumay und weitere Freunde des Hauses (ein Notar, ein Bankier, deren Frauen, Söhne und Gehilfen) versuchen Modeste eine Falle zu stellen, indem sie eines Abends so tun, als würde ein junger Mann ums Haus streifen. Dumay rennt mit seinen Pistolen nach draußen, um ihn zu erschießen. Man erhofft sich davon, dass Modeste die Nerven verlieren und sich verraten wird. Sie bleibt jedoch vollkommen cool und geht kommentarlos nach oben, um ihrer Mutter das Bett zu richten.

Beste Figur: Die Gattin des Notars, Frau Latournelle: „Sie schnupft Tabak, hält sich steif wie ein Pfahl, spielt die bedeutende Frau und gleicht ganz einer Mumie, welcher der Galvanismus für einen Augenblick Leben geliehen hat.
(…) Ihre soziale Nützlichkeit erscheint unbestreitbar, wenn man ihre mit Blumen aufgemachten Hauben, ihre Haargebäude und ihre Kleider sieht. Denn wo sollten die Kaufleute dergleichen Ware anbringen, wenn es keine Frau Latournelle gäbe?
(…) aber die Natur, die sich zuweilen einen Scherz daraus macht, solche possierlichen Schöpfungen in die Welt zu schleudern, hatte sie mit der Figur eines Tambourmajors ausgestattet…“

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2 Gedanken zu “Modeste Mignon, Teil I

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