Im Grunde ist dieses Projekt eine Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, um die beinahe täglichen Aufenthalte im Bierbrunnen sinnvoll zu gestalten. Diese wundervolle Kneipe hat man Ende letzten Jahres entdeckt und dort fast einen ganzen Roman geschrieben. Der Hauptvorteil ist, dass sie bereits um neun Uhr in der Frühe öffnet, denn man arbeitet gern vormittags. Dazu kommen die lustigen Stammgäste, mit denen man zur Auflockerung plaudern kann, die einen aber auch in Ruhe lassen, wenn man schreiben möchte.
Am besten ist überhaupt, ihnen einfach nur zuzuhören. Nachdem das Wetter und die neuesten Angebote bei KAUFLAND ausreichend diskutiert sind, werden gern die eigenen Essgewohnheiten erörtert.
Wirtin: „Nee, an Heilichabend, da mach ick immer, da hol ick immer bei PENNY, da gibt’s so abjepackte halbe Hähnchen, schon fertich jegart. Die schieb ick dann immer schön in‘ Ofen und schick mein Männeken hier rüber zur Baude, damitta n’paar Pommes holt.“
Männeken (nickt demonstrativ)
Wirtin: Und dann schieb ick die ooch noch kurz mit rin, und fertich is die Laube. Da bleibt ooch meistens noch wat übrich. Ick ess ja immer gern am liebsten die Brust, aber letztet ma hab ick nur dit Keulchen abjenagt, da ham wa schön noch am nächsten Tach, da hab ick einfach ’ne Büchse Champis und’n Glas Spargel dazu jemacht, und da hatten wa schön noch’n Frikassee.“
Männeken (klopft auf den Tresen): „Noch’n janzet Essen für’t gleiche Jeld!“
Wirtin: „Is dann halt nich so hell, dit Frikassee, sondern eher so rötlich, wegen dem Jewürz von den Hähnchen, aber schmeckt immer jut.“
Nachdem der Roman beendet war, hatte man plötzlich gar keinen echten Grund mehr, dort hinzugehen. Deshalb nun diese 16.000 Seiten Balzac. Damit sind die nächsten dreihundert Tage Bierbrunnen gesichert.
BAND 3: Zwei Frauen, S. 184 – 259
Die nächste Etappe beginnt mit eitel Sonnenschein. Renée geht völlig in ihrer Rolle als Mutter auf, Louises Liebesglück ist ungetrübt, zumindest aus ihrer Sicht. Doch nachdem sie und ihr Spanier zu Besuch bei Renée auf dem Land waren, warnt diese: „Ein unbedeutender Mann ist schwer zu ertragen, doch gibt es Schlimmeres, und das ist ein unterdrückter Mann. In kurzer Zeit wirst du Macumér zum bloßen Schatten seiner selbst entwürdigt haben: ohne eigenen Willen, nicht mehr er selber, sondern eine Deinen Zwecken angepaßte Sache.“ Davon wollen die Liebenden freilich nichts hören. Der Spanier schwört sogar, dass er jederzeit einen einzigen Tag als Louises Sklave für seine ganze verbleibende Lebenszeit eintauschen würde.
Zwei Jahre verstreichen, dann drei. Renée kriegt ein Kind nach dem anderen, Louise möchte auch, wird aber einfach nicht schwanger. Ganz plötzlich stirbt ihr Spanier, man erfährt nicht genau, woran. Aber es scheint, als hätten sich Renées Prophezeiungen erfüllt: „Meine Ansprüche, meine sinnlosen Eifersüchteleien, meine ständigen Quälereien haben ihn getötet. (…) Ich bin ein unseliges Geschöpf; oder sollte die reine leidenschaftliche Liebe, die nichts außer sich kennt, ebenso unfruchtbar sein wie der Haß?“
Diese ulkigen Tempowechsel bei Balzac. Erst beschreibt er über hundert Seiten die feinsten Nuancen der Seelennöte seiner Figuren, dann lässt er sie einfach so über die Klinge springen, ohne sich mit Erklärungen aufzuhalten.
Der zweite Teil des Romans (der nur noch die letzten 75 Seiten umfasst) beginnt vier weitere Jahre später. Louise ist inzwischen eine 27jährige, schwerreiche Witwe, die schon wieder verlobt ist mit dem jungen, mäßig erfolgreichen Dichter Marie Gaston: „Stelle Dir die bittre Enttäuschung des guten Jungen vor, der glaubte, Genie sei der sicherste Weg zum Glück. Ist das nicht zum Totlachen? Seit 1828 ringt er um Namen und Ansehen in der Literatur, wobei er natürlich ein Leben voller Ängste, Hoffnungen, Arbeit und Entbehrungen führte, wie es sich unsereiner nicht einmal vorzustellen vermag.“ Man weiß nicht wieso, aber irgendwie kann man sich mit diesem Burschen sehr gut identifizieren.
Louise liebt ihn abgöttisch, wodurch sich die Machtverhältnisse umkehren. Plötzlich ist sie die Sklavin, die Abhängige, und wird verfolgt von unbestimmten Ängsten: „…die lächerlichsten Befürchtungen befallen mich plötzlich: ich habe Angst, verlassen zu werden, ich habe Angst, eines Tages alt und häßlich zu sein, wenn Gaston noch in Jugend und Schönheit strahlt, Ach, der Gedanke, ihm nicht zu genügen, schnürt mir das Herz zusammen!“
Vielleicht steht man mit dieser Meinung allein da, doch man ahnt, dass auch hier kein Happy End auf einen zukommt.
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