BAND 83: Gambara
Der italienische Edelmann Graf Andrea Marcosini schlendert abends durchs Palais Royal. Erst durch die Verfilmung von Verlorene Illusionen hat man begriffen, dass es sich dabei um die Anlage nördlich des Louvre handelt, die heute den Staatsrat und die Comédie-Française beherbergt. Damals war es allerdings das Zentrum des Nachtlebens, frei von Polizei, weil es dem Herzog von Orléans gehörte, ein schillerndes Rotlichtviertel, die Keimzelle der Revolution. Ende des Exkurses.
Graf Andrea verfolgt eine Frau, von der er besessen scheint. Kein Wunder, hat er doch noch nie irgendeine Form von Liebe erfahren: „Weder hatte er mit elf Jahren seine Kusine geliebt, noch war er mit zwölf Jahren von der Zofe seiner Mutter verführt worden.“ Armes Schwein. Er folgt ihr in ein heruntergekommenes Haus, wo er vom Koch erfährt, dass die Frau Marianna Gambara heißt und mit einem tüchtigen, aber irren Komponisten verheiratet ist, den sie abgöttisch liebt. Eine echte Herausforderung also. Andrea bleibt zum gemeinsamen Pensionsessen und schmeichelt sich bei Paolo Gambara ein. Wie ginge das besser, als eine Ikone zu verunglimpfen, zum Beispiel Rossini: „Die italienische Schule hat die hohe Mission der Kunst aus den Augen verloren. Anstatt die Meute zu sich heraufzuziehen, ist sie zur Meute herabgestiegen (…) Die Werke Rossinis (…) scheinen mir höchstens fähig, das Volk auf der Straße um einen Leierkasten zu sammeln und die Sprünge des Harlekins zu begleiten.“ Wenn man sich an die slapstickhafte Ruth Berghaus – Inszenierung des „Barbier von Sevilla“ erinnert, kann man dem im Grunde nur zustimmen.
Auch Paolo scheint von den Ausführungen gefangen zu sein. Während er Andrea seine Lebensgeschichte erzählt, füßelt der heimlich mit seiner Frau. Die liebt zwar, wie gesagt, ihren Mann, leidet aber auch unter seinem verbohrten Genie. Andrea folgt den beiden in ihre Wohnung, wo er gemeinsam mit dem Koch die gesamte Oper anhören muss, die Gambara gerade schreibt. Der Komponist benimmt sich dabei wie wahnsinnig und die Qualität seiner Musik lässt zu wünschen übrig: „,Beim Bacchus! ich bin völlig betäubt!‘ rief der Graf beim Fortgehen. ,Ein Kind, das auf einem Klavier tanzt, würde bessere Musik machen!‘ – ,Gewiß, der Zufall könnte nicht mit so großer Gewandtheit den Einklang zweier Töne vermeiden, wie dieser Teufel es während einer Stunde getan hat‘, versetzte der Koch.“
Stellt sich nämlich heraus: Die Komposition klingt nur gut auf einem eigens von Gambara erfundenen Instrument namens „Panharmonium“. Das ist allerdings dermaßen laut, dass immer gleich die Polizei anrückt, wenn es gespielt wird.
Andrea nimmt sich Gambara zur Seite und füllt ihn mit Wein ab. Er glaubt nämlich zu erkennen, dass der Komponist sich nur im Suff wirklich entspannen und zur Höchstform auflaufen kann. Man muss an den Film „Der Rausch“ und die Philosophie des norwegischen Psychiaters Finn Skårderud denken, nach der 0,5 Promille Blutalkohol der perfekte Pegel sind, um selbstbewusst und inspiriert durchs Leben zu gehen. Die beiden diskutieren über Gluck und Mozart und Meyerbeer, bis Gambara nicht mehr weiß, wo ihm der Kopf steht. Andrea überzeugt ihn davon, dass er mehr Mainstream werden muss, statt mit seinen komischen Ideen herumzufummeln.
Sechs Jahre später ist Gambara ruiniert. Sein Panharmonium und seine Opern sind auf dem Müll, er verdient seinen Lebensunterhalt damit, Instrumente zu reparieren. Marianna ist mit dem Grafen nach Italien durchgebrannt. Die Nachbarn stellen sich vor, in welchem Luxus sie leben muss, da taucht sie plötzlich zerlumpt auf der Straße auf. Anscheinend war Andrea bereits mit einer Tänzerin verheiratet und hat sie vor die Tür gesetzt. Marianna kehrt zu ihrem Mann zurück und singt fortan mit ihm auf den Champs-Elysées.
Beste Stelle:
Gambaras Abschied, wenn er sich wieder ans Komponieren macht. Genauso sollte man sich auch in die tägliche Schreibarbeit stürzen: „Ich sehe eine Melodie, welche mich einlädt; sie geht und tanzt vor mir, nackt und zitternd wie ein schönes Mädchen, welches ihren Liebhaber um ihre Kleider bittet, die er versteckt hält. Leben Sie wohl, ich eile eine Geliebte ankleiden zu gehen – und überlasse Ihnen meine Frau.“
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