Die Balzac-Ära neigt sich dem Ende zu. Man hat ursprünglich etwa dreihundert Tage für die Lektüre der Comédie humaine veranschlagt, inzwischen zeichnet sich ab, dass man ein ganzes Jahr dafür brauchen wird. Das liegt daran, dass man nicht kontinuierlich fünfzig Seiten pro Tag lesen konnte. Manche Erzählungen waren kürzer als fünfzig Seiten, manchmal war man aus Gründen nicht in der Lage, sich mit Balzac zu befassen.
Nun ist man an dem Punkt, das Projekt schnell zu Ende bringen zu wollen. Als Person, die ständig neue Ideen hat (Italienisch lernen, Klavier spielen, Ölmalerei), diese Ideen aber meist nur für zwei, drei Monate verfolgt, um sich dann neuen Luftschlössern zuzuwenden, beweist man hiermit ein ungewöhnliches Durchhaltevermögen. Noch ein paar Bände, dann ist es geschafft. Dann hat man innerhalb eines Jahres drei Bücher geschrieben, von denen kein einziges ein Roman war. Aus Romancier-Sicht hat man also gar nichts geschrieben.
BAND 82: Ein Drama am Ufer des Meeres
Ein Ich-Erzähler namens Louis, offensichtlich ein Dichter, steht an einer bretonischen Klippe und wälzt mit Blick auf das Meer größenwahnsinnige Gedanken. „Es gibt gewissermaßen zwei Jugendalter: die Jugend, in der man glaubt, und die Jugend, in der man handelt; bei den von der Natur begünstigten Menschen vereinigen sie sich oft, und das sind, wie Cäsar, Newton und Bonaparte, die größten unter den großen Menschen.“
Unter ihm jauchzt seine Freundin Pauline beim Baden, die beiden machen einen Strandspaziergang. Dabei ergötzen sie sich an der Gewissheit, dass niemand die Natur so aufmerksam betrachten kann, wie sie selbst. Überhaupt fühlen sie erhabener als der Rest der Menschheit. Andauernd drücken sie sich in holder Glückseligkeit die Hände oder den Arm, um sich auf eine drollige Besonderheit der Landschaft aufmerksam zu machen.
Schließlich kommt ihnen ein armer Fischer entgegen, den sie mit ihren Städter-Augen nach Lust und Laune sezieren. Seinen Fang – einen Hummer und eine Seespinne – kaufen sie ihm für ein Vielfaches seines Wertes ab, engagieren ihn dann direkt als Touristenführer. Wie man eben mit local people so umgeht. Der gemeinsame Weg führt sie zu einer Grotte, in der ein geheimnisvoller Einsiedler haust. Die Neugier der Liebenden fördert zutage, dass es sich bei ihm um den alten Pierre Cambremer handelt, der Buße tut, weil er seinen Sohn ermordet hat. Zuerst zogen er und seine Frau ihn antiautoritär auf, schlugen alle Warnungen der Leute in den Wind: „Ihr kleiner Jacques hätte, mit Verlaub, in den Kochtopf machen können, und sie hätte es für Zucker gehalten. (…) Wenn man zum Vater Cambremer sagte: ,Ihr Sohn hätte beinahe den kleinen Soundso getötet!‘ dann lachte er (…) Oder: ,Peter Cambremer, wissen Sie, daß Ihr Junge der kleinen Pougard ein Auge ausgestochen hat?‘ ,Er wird die Mädchen lieben‘, antwortete Peter dann.“
Der süße Tunichtgut wird natürlich zum Dieb und Lügner, was die alten Cambremers einfach nicht kommen sahen. Um diesen Fehler wiedergutzumachen, erstickt der Alte den Sohn im Schlaf und versenkt ihn dann im Meer. Die Mutter stirbt acht Tage später am Kummer. Und sie lebten glücklich bis ans Ende-… naja, nicht wirklich. Louis und Pauline sind von dieser Dorfgeschichte mit Lokalkolorit so schockiert, dass sie erstmal in Kur müssen.
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