Man befindet sich im üblichen Schwebezustand nach Beendigung eines Projektes. Elf Monate dieses Jahres war man Erfüllungsgehilfe der selbst gestellten Aufgaben, nun hat man die lang ersehnte Freiheit wiedergewonnen, die Freiheit von Buchverträgen und Verpflichtungen. Leider hat man sich so sehr an den gesteigerten Arbeitsrhythmus gewöhnt, dass man mit der Freiheit nichts anfangen kann. Am liebsten würde man direkt einen Roman beginnen, fühlt jedoch, dass man damit den inneren Quell überstrapazieren würde.
Dazu kommt der aufregende und jedes Mal aufs Neue aufreibende Post-Manuskriptabgabe-Prozess. Zoom-Meetings mit der PR-Abteilung des Verlags, um die Marketing-Strategie zu besprechen. Zoom-Meetings mit einem Kölner Tonstudio für eine Probelesung des eigenen Textes (den man im Falle einer guten Perfomance selbst als Hörbuchsprecher wird einlesen dürfen). Dazu schickt einem die Lektorin scheibchenweise überarbeitete Kapitel zu, sodass man sich nochmal eingehend mit dem eigentlich abgehakten Text beschäftigen muss.
Man ist dankbar und froh, dass man derart vom Verlagsgetriebe beansprucht wird, freut sich auf den Erscheinungstermin im April. Außerdem hat man immer noch den lieben, guten Balzac, der für Stabilität im Wochenplan sorgt. Trotzdem – als Experte in unstillbarer Sehnsucht und dem zwanghaften Streben nach mehr möchte man sich direkt ins nächste Projekt werfen. Vielleicht sollte man Buddhist werden, um dieses innere Drängen in den Griff zu kriegen. Andererseits könnte man sich dann auch gleich ins Grab legen. Om mani padme hum.
BAND 71: Das Chagrinleder, S. 1 – 50
Ein junger Unbekannter geht ins Casino. Er macht einen so erbärmlichen Eindruck, dass selbst die abgeklärtesten Spieler aufmerksam werden: „und wie eine zahnlose Alte von Mitleid gepackt wird, wenn sie ein entzückendes Mädchen sieht, das sich verkauft, hatten all diese ausgedienten Meister des Verbrechens und der Gemeinheit Lust, ihm zuzurufen: ,Geh fort von hier!’“ Natürlich tut er das nicht und verzockt sein letztes Geld.
Im Anschluss wandert er an der Seine entlang, spielt mit Gedanken an Selbstmord. Was genau sein Problem ist – abgesehen von der Armut – , erfährt man nicht, nur dass er ein Dichter ist. Andererseits ist ja allein das schon Grund genug ins Wasser zu gehen. Jedenfalls schiebt er seinen Tod noch etwas auf, um in einen Antiquitätenladen zu gehen. Ein ziemlich irrer Antiquitätenladen, denn dort gibt es neben dem üblichen Tand eine echte Michelangelo-Skulptur, sowie Bilder von Correggio und Rafael.
Auch der Besitzer ist etwas merkwürdig, gebärdet sich wie der allwissende Melmoth aus der gerade gelesenen Erzählung: „Für einen Maler hätte es zweier Pinselstriche bedurft, um aus einem Porträt dieses Gesichtes ein schönes Bildnis des ewigen Vaters, oder die grinsende, tückische Fratze des Mephistopheles zu machen; denn beides stand darin – das Göttliche in der erhabenen Macht der Stirne und das Teuflische in dem düsteren Hohne des Mundes.“
Der Alte will nichts wissen von der Lebensmüdigkeit des Unbekannten, macht ihn stattdessen auf ein magisch leuchtendes Chagrinleder aufmerksam. Um dem Leser dieser Zeilen das Googlen zu ersparen: Chagrin ist eine speziell gekörnte Form von Leder, die man für Saumzeug und Bucheinbände verwendet hat. Auf diesem hier ist eine Inschrift eingraviert, eine Art Vertrag, den der Unbekannte als echte Faust-Figur ohne zu zögern eingeht: „Wenn du mich besitzest, besitzest du alles. Aber dein Leben wird mir gehören. Gott hat Es so gewollt. Wünsche, und deine Wünsche Werden erfüllt. Aber richte Deine Wünsche auf dein Leben. Es ist da. Mit jedem Wunsche nehme ich ab. Wie deine Tage. Du willst mich? Nimm! Gott wird dich erhören. Es sei!“
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