BAND 71: Das Chagrinleder, S. 51 – 100
Als ersten Wunsch von seinem ledernen Talisman möchte der Unbekannte an einem opulenten Bankett teilnehmen. Er heißt übrigens Rafael von Valentin. Kaum tritt er aus dem Antiquitätenladen auf die Straße, da wird er von drei seiner Kumpels aufgegabelt und zu einem Festessen anlässlich einer Zeitungsgründung mitgeschleift. Dort trifft er auf etliche Stammfiguren der Comédie, die zuerst nur anhand ihrer Berufe beschrieben werden. Man macht sich Notizen an den Rand des Textes: Maler – Joseph Bridau? Karikaturist – Bixiou? Schriftsteller – Nathan? Arzt – Bianchon? Und stellt im Anschluss voller Genugtuung fest, dass man zu 100% richtig lag. Das Teilziel, sich blind mit dem Personal dieses Mammutwerks auszukennen, ist demnach erreicht.
Es folgt eine lange Orgien-Szene, in der Balzac mal so richtig zeigt, was er kann. Mit „Das Chagrinleder“ feierte er seinen Durchbruch und man kann verstehen, wieso. Ähnlich wie bei Fitzgerralds Debut „Diesseits vom Paradies“ wird das komplette stilistische Repertoire aufgefahren, je mehr, desto besser. Die Hauptfigur Rafael kommt da kaum noch zu Wort, was aber dem Unterhaltungswert keinen Abbruch tut. „Die einen, die den Höhepunkt der Trunkenheit erreicht hatten, verharrten nun dumpf, mühevoll damit beschäftigt, einen Gedanken zu fassen, der ihnen ihre Existenz beweisen könnte. Die anderen, in der sanften Verblödung lähmender Verdauung, blieben ohne Bewegung.“
Nachdem sich alle Anwesenden nach Strich und Faden besoffen und vollgefressen haben, kommen die liederlichen Frauenzimmer zu Besuch. Auf die Frage seines Freundes Emile Blondet, warum er denn eigentlich so eine Todessehnsucht hat, antwortet Rafael: „Seit wann stammen die Schmerzen nicht einzig aus der Leidensfähigkeit der Seele?“
Beste Figur:
Die schon etwas mitgenommene Hedonistin Aquilina: „ihr Anblick erweckte eher Staunen als Gefallen, jeder Ausdruck ging voll Größe und wie ein Blitz über ihr bewegliches Gesicht. Vielleicht konnte sie abgestumpfte Männer entzücken – aber ein junger Mensch nahm sich vor ihr sicher in acht. Sie war eine gewaltige Statue, von der Höhe eines griechischen Tempels herabgestürzt, wundervoll in der Ferne, doch in der Nähe roh.“
Beste Stellen:
Aquilinas Statement bezüglich der Zukunft: „Warum soll ich an etwas denken, das noch gar nicht existiert? Ich schaue niemals vor mich noch hinter mich. Es ist doch schon genug, wenn ich mich mit einem ganzen Tag auf einmal beschäftigen muß. Übrigens kennen wir ja unsere Zukunft. Sie ist das Spital!“
Aquilinas Statement bezüglich der Rolle der Frau: „Sich für sein ganzes Leben einem verhaßten Menschen zu schenken, Kinder aufzuziehen, die einen verlassen, und ihnen ,Danke‘ zu sagen, wenn sie einem ins Herz treffen – das sind die Tugenden, die ihr den Frauen anbefehlt; (…) Ein hübsches Leben! Dann schon lieber freibleiben, die lieben, die einem gefallen – und jung sterben!“
Pingback: Das Chagrinleder, Teil I | CLINT LUKAS
Pingback: Das Chagrinleder, Teil III | CLINT LUKAS