Im Zug auf dem Rückweg nach Berlin (der wöchentliche Shuttledienst, um das Kind aus Rostock zu holen). Man beginnt den letzten dicken Wälzer der Comédie humaine. Es fühlt sich wie ein Endspurt an, auch wenn immer noch schätzungsweise 3.500 Seiten vor einem liegen. Erstaunlich, wie sehr man bei Beginn des letzten Drittels einer aufwendigen Arbeit ächzt, um dann bei Beginn des letzten Viertels eine Leichtigkeit zu entwickeln, die zu Höchstleistungen beflügelt.
Der Furcht vor dem Loch nach Beendigung dieses Blogs konnte man bereits mit einer neuen Idee begegnen, die hier derweil nicht verraten wird. Nur soviel kann man andeuten: Es wird um einen noch kauzigeren Künstler als Balzac gehen, dessen Werk mal unbestrittener Mainstream war, um in den letzten achtzig Jahren deutlich an Prestige einzubüßen.
BAND 55: Tante Lisbeth, S. 1 – 40
Das Buch beginnt mit einem furiosen Duell. Der 50jährige, neureiche Millionär Crevel sucht die ehrenwerte Baronin von Hulot auf und fordert mit einer verblüffenden Dreistigkeit, dass sie seine Liebhaberin werden soll: „glauben Sie mir, ich habe ein verbrieftes Recht auf Sie. Ein unverkäufliches Recht, Ihnen den Hof zu machen, mehr noch: Sie zu besitzen wie eine längst bezahlte Ware; denn… aber nein, verzeihen Sie, ich liebe Sie auch ohne diese ganzen Vorrechte…“
Ein gewagter Einstieg, um das Herz einer Frau zu erobern. Die Baronin ist davon auch nicht besonders angeturnt, sondern erinnert den Wüstling erstmal an die harten Fakten: Seine Tochter Celestine ist mit ihrem Sohn verheiratet, er hatte darüber hinaus versprochen, sich um die Verheiratung ihrer Tochter Hortense zu kümmern. Stattdessen hat er diese verhindert, indem er auf die prekäre finanzielle Lage der Hulots hinwies. Ob er sich anders verhalten hätte, wenn sie mit ihm ins Bett gegangen wäre? Na sichi, antwortet Crevel schlicht und einfach. Dann geht seine originelle Eroberung weiter.
Er erzählt, dass er eine 15jährige Lustsklavin hatte, die ihm von Hulot, dem Gatten der Baronin, ausgespannt wurde. In seiner Kaufmannslogik ist das der ultimative Grund, warum diese nun seine Mätresse werden muss. „Und so, als müsse er diese zynische Offenheit bekräftigen, kniete der spitzbäuchige Kapitän nieder und küßte Frau von Hulot mit asthmatischem Gefauch die Hände. Der Baronin gefror das Blut in den Adern vor Schreck.“
Die ganze Geschichte wogt so hin und her, man findet Crevel furchtbar, muss vor seiner Hartnäckigkeit aber den Hut ziehen. Zumal der alte Widerling mitunter kluge Sachen sagt. So prophezeit er, dass Hortense ohne eine von ihm gestiftete Mitgift nie einen Mann finden wird, und zwar gerade weil sie so unglaublich schön ist. Denn schöne Frauen bedeuten Ärger: „Es ist da wie bei einem edlen Pferd, das außergewöhnliche Sorgfalt erfordert und unglaubliche Kosten verursacht, um endlich einen seriösen Käufer zu finden. Kann man mit solch einer Frau Arm in Arm zu Fuß über die Straße gehen? Jedermann sieht sich nach einem um, folgt und hat Verlangen nach der Frau. Gewiß kann man sich darauf etwas einbilden. Aber man wird unruhig dabei, setzt mehr Nerven zu, als man zur Verfügung hat.“
Die arme Baronin bleibt trotzdem standhaft und verscheucht Crevel wie ein lästiges Insekt. Sie bleibt allein zurück, in der unglücklichen Gewissheit, dass ihr Mann sie betrügt, und die Aussicht auf Hortenses Verheiratung hoffnungslos ist.
Beste Figur:
Der schamlose, feiste Crevel, eine Perle bürgerlicher Hochkultur: „Das Gesicht (…) strotzte von Selbstzufriedenheit; es glänzte feurigrot und war aufgeschwemmt vom Fett satten Behagens.“
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