BAND 17: Die Grenadière
In der Diogenes-Gesamtausgabe ist Die Grenadière einer der Sammelbände, in dem mehrere Erzählungen zusammengefasst wurden. Man hat ihn schon zweimal aus dem Regal genommen, um Vendetta und Der Auftrag zu lesen und sich gefragt, was sich wohl hinter der titelgebenden Story verbirgt. Assoziationen an ein rüstiges Weibsbild mit den Charaktereigenschaften eines Grenadiers. Doch nein, die Grenadière ist ein kleines Weingut bei Tours, benannt nach seinen im Freien wachsenden Granatapfelbäumen.
Zu Beginn der Geschichte wird es von der geheimnisvollen Lady Brandon gemietet, die dort mit ihren beiden Söhnen einzieht. Sie wirkt immerzu melancholisch, was zu Spekulationen bei der ansässigen Bevölkerung führt. Dafür geht sie sehr rührend mit ihren Kindern um. Also wirklich extrem rührend. So rührend, dass beim Lesen direkt wieder der Abzugsfinger zuckt. „,Habt ihr fleißig gearbeitet?‘ fragte dann die Mutter, aber in so süßem und liebevollen Tone, als ob sie die Faulheit wie ein Unglück beklagen wollte, und immer bereit, dem, der mit sich zufrieden war, einen tränenfeuchten Blick zuzuwerfen.“ Ja, tränenfeucht sind die Blicke aller Eltern, wenn sie zum 172. Mal die Blagen zum Hausaufgabenmachen antreiben müssen.
Als man mit dem Schreiben anfing, hat man sich immer an Romanplots versucht, bei denen ein idyllisches Szenario von einer Katastrophe heimgesucht wird. Um die nötige Fallhöhe zu erzeugen, musste die Idylle natürlich allumfassend sein. Ein Liebespaar zum Beispiel, das sich ohne Rückhalt liebt, ohne einen blinden Fleck zwischen sich.
Mit der Zeit wurde einem dann klar, dass es solche modellhaften Konstellationen nicht gibt, bzw. dass man sich auf Roland Emmerich – Niveau begibt, wenn man sie in einen Plot einbaut. Figuren vom Reißbrett, die nach Belieben verheizt werden können. Mit denen man aber auch nicht mitfühlt, weil man keinerlei Beziehung zu ihnen aufbauen kann. Seitdem stellt man selbst die Figuren in den Mittelpunkt, und was ihnen zustößt, wird erst durch sie interessant. Keine Ahnung, ob man damit eine höhere Ebene des Schreibens erreicht hat, aber es fühlt sich ehrlicher an.
Jedenfalls erinnern einen diese Balzac-Beschreibungen vom einträchtigen Familienglück an die eigenen ersten stümperhaften Versuche. Schon bei Vater Goriot war die Vaterliebe das schwächste Element, die reine Projektion eines Mannes, der selbst nie Kinder hatte. Womit man nicht sagen will, dass man Kinder haben muss, um über die Elternschaft schreiben zu können. Aber der Meister hatte definitiv andere Stärken.
Und natürlich lässt die Katastrophe auch hier nicht lange auf sich warten. Lady Brandon leidet an einer unbenannten Krankheit, der sie bald zu erliegen fürchtet, und wegen der sie ihre Söhne mittellos zurücklassen muss. So mittellos man eben mit Kammerfrau, einem Weingut in der Touraine und zwölftausend Franken in bar ist. Kurz vor ihrem Tod diktiert sie dem älteren Sohn einen Brief, in dem sie Lord Brandon in London mitteilen lässt, dass sie ihm verzeiht. Man ahnt irgendwelche Verwicklungen, wahrscheinlich sind die Kinder unehelich, aber es wird nichts weiter erklärt. Der junge Sohn wird der Obhut der Kammerfrau übergeben, der ältere wird Seekadett. Hier könnte eine Handlung einsetzen, weil man nun einen gewissen Bezug zu den beiden hat. Aber die Erzählung ist zu Ende.
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