BAND 14: Vater Goriot, S. 305 – 360
Freund Stefan aus Wien, der einzige Balzac-Liebhaber, den man kennt, fragt ständig, welche von den Goriot-Töchtern man lieber mag, die Nasie oder die Fini. Dabei kann man ja eigentlich nur abwägen, welche von beiden durchtriebener ist, und was einen daran fasziniert. Die dreiste Schnorrerin Anastasie, die ihrem Vater auch noch die allerletzten tausend Franken abpresst und diese dann nicht mal selbst abholt, sondern durch einen Boten. Oder die sanfte Schnorrerin Delphine, die ein Problem niemals so direkt angehen würde, aber am Ende auch immer bekommt, was sie will.
Rastignac jedenfalls ist schwer empört, dass keine der Schwestern ans Sterbebett ihres Vaters kommen will. Fini ist viel zu aufgeregt wegen der Party bei Frau von Beauséant, Nasie muss zuhause bleiben, weil zwischen ihr und ihrem Mann dicke Luft herrscht.
Das Mitleid für Vater Goriot hält sich beim Leser allerdings auch in Grenzen. Zum Beispiel die oben erwähnten allerletzten tausend Franken: „das Silberzeug und die Schnallen habe ich für sechshundert Franken verkauft, dann habe ich meine Leibrente gegen eine einmalige Zahlung von vierhundert Franken bei Gobseck versetzt. Ich werde trocken Brot essen!“ Und der dringende Anlass, weswegen Nasie ihn um diesen letzten Notgroschen bittet? Sie muss das golddurchwirkte Kleid bezahlen, das sie für den abendlichen Ball bestellt hat. Da kann Balzac noch so sehr beteuern, dass der alte Trottel der Inbegriff der Vaterschaft wäre. Wer seine Gören so verzieht, kriegt am Ende, was er verdient. „,Ein schneller Tod wäre das beste für ihn‘, war das letzte Wort des Arztes.‘“
Der ist jedoch weder ihm noch dem Leser vergönnt. Seite um Seite deliriert er nun in seinem Pensionsbett, sehnt seine Töchter im einen Moment herbei, um sie im nächsten zu verfluchen. Für Rastignac, der als einziger bei ihm wacht, zeigt sich in dieser Tragödie die ganze Niedertracht der Gesellschaft. „Über Delphines wahre Empfindungen war er sich nicht im Unklaren. Er ahnte, daß sie imstande sei, über die Leiche ihres Vaters hinweg zum Ball zu gehen. Er hatte weder die Kraft, die Rolle des weisen Mentors zu übernehmen, noch den Mut, ihr zu mißfallen, noch die Größe, sie zu verlassen.“
Er entscheidet sich deshalb für die vierten Weg und hört den ganzen Abend nicht auf zu quengeln.
Am nächsten Morgen und weiteren Monologen scheint es mit dem Alten dann tatsächlich zu Ende zu gehen. Rastignac startet einen letzten Versuch und fährt selbst zu den Restauds, um Anastasie zu holen. Nur nochmal kurz zur Erinnerung, auch weil Goriot in seinen Tiraden mehrmals betont, was für ein schrecklicher Ehemann der Graf von Restaud ist: Anastasie betrügt ihn seit Jahren mit dem adeligen Schnorrer Maxime de Trailles, zwei ihrer drei Kinder stammen aus dieser Affäre. Um die Spielsucht ihres Lovers zu finanzieren, ruiniert sie zuerst ihren Vater, dann ihren Mann, am Ende die eigenen Kinder, hat aber immer noch die Nerven, sich selbst als Opfer zu stilisieren.
Die Antwort des Grafen bringt daher eine gewisse Genugtuung: „,Herr von Rastignac‘, sagte Herr von Restaud kühl, ,es ist Ihnen wohl nicht entgangen, daß ich für Herrn Goriot wenig zärtlich empfinde. Er hat auf Frau Restaud einen verhängnisvollen Einfluß gehabt, er war das Unglück meines Lebens, er ist der Feind meiner Ruhe. Ob er lebt oder stirbt, ist mir vollkommen gleichgültig. Dies sind meine Empfindungen ihm gegenüber. Die Welt kann mich tadeln, ich verachte ihre Meinung.‘“
Word, Bruder.
Am Ende tauchen beide Schwestern doch noch bei ihrem Vater auf, doch er hat bereits das Bewusstsein verloren. Haareraufen, heilige Schwüre, heiße Tränen der Verzweiflung. Man hat ein bisschen das Gefühl, als hätte Balzac nur die ersten drei Viertel des Romans geschrieben, ohne Zweifel ein Meisterwerk. Doch dann kam leider sein bescheuerter Bruder mit dem Faible für Seifenopern um die Ecke und hat den letzten Seiten seinen schmierigen Stempel aufgedrückt.
Für Rastignac ist das ganze ein Erweckungserlebnis. „Er hatte drei große Ausdrucksformen der Gesellschaft gesehen: Gehorsam, Kampf, Empörung, die Familie, die Welt, Vautrin. Er wagte es nicht mehr, Partei zu ergreifen. Gehorsam war langweilig, Empörung unmöglich, der Kampf unsicher.“
Und doch ist er am Ende kampfbereit. Von Goriots Grab auf dem Père Lachaise schaut er hinüber zum Faubourg Saint-Germain und rüstet sich für die Schlacht seines Lebens. Der idealistische Träumer ist tot. Lang lebe der zynische Dandy.
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