Die Frau von dreißig Jahren, Teil IV

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Wie schon an früherer Stelle erwähnt, hat man dieses Projekt in erster Linie deshalb ins Leben gerufen, um einen Grund für die täglichen Bierbrunnen-Besuche zu haben. So sehr man die Stammgäste und Wirtsleute dort mag, es reicht nicht, Tag für Tag nur mit ihnen zu trinken. Man braucht auch eine abrechenbare Aufgabe. Doch nachdem man sie sich hiermit geschaffen hat, ist einem ausgerechnet die Lust am Alkohol vergangen. Was nun? Natürlich hat man es mit alkoholfreiem Bier versucht, aber das ist einfach nicht das Gleiche. Da kann man ja gleich in so ein würdeloses Hipster-Café gehen und einen Chai Latte bestellen.
Nicht mal ein drohender Weltkrieg konnten einem Bier und Schnaps wieder schmackhaft machen. Wenn man nüchtern ist, ist man viel wacher. Der Tag lässt sich mit sechs Stunden Schlaf und ohne Mittagsruhe stemmen. Keinerlei Fusel-induziertes Selbstmitleid stellt sich ein, ebenso keine Heißhungerattacken. Man spart Geld. Man kann mehr leisten.
Die Frage ist nur, WAS mit der zusätzlichen Leistungsfähigkeit geleistet werden soll. Man könnte auf der Stelle den nächsten Roman beginnen. Doch man hat noch nicht mal den letzten verkauft. Agenturen und Verlage tun gerade so, als hätten sie eine Textphobie. Das wird durch die Bank mit „der aktuellen Situation“ erklärt. Man muss also nur etwa zehn Jahre warten, bis die Verleger wieder verlegen wollen. Bis dahin sitzt man beim Schlager im Bierbrunnen, stocknüchtern. Mit glasklarem Zeitgefühl.

BAND 10: Die Frau von dreißig Jahren, S. 152– 184

Julie d’Aiglemont und Charles de Vandenesse eiern trotz ihrer Verliebtheit noch etliche Seiten lang herum. Es ist schwer, dabei nicht sarkastisch zu werden, weil man diese Masche in den bereits gelesenen Bänden schon so oft bezeugen musste. „Er wollte platonisch lieben, ohne erhört zu werden, kam jeden Tag, um dieselbe Luft mit Frau von Aiglemont zu atmen, wohnte beinahe in ihrem Hause und begleitete sie überall hin mit der Tyrannei einer Leidenschaft, die ihrer Selbstsucht vollkommenste Ergebenheit zugesellt.“ Stuff like that. Dann geht es aber wieder ganz schnell. Nachdem Charles einen leichten Eifersuchts-Auszucker hatte, „betraten sie den Himmel der Liebenden.“

Zeitsprung von etwa vier Jahren. Unter der Überschrift Die Finger Gottes beginnt eine neue Episode. Ein Ich-Erzähler steht im heutigen Quartier Latin und freut sich über die Schönheit seiner Heimatstadt. Wer ist er? Ist es Balzac? Bisher trat er zwar schon als Kommentator auf, aber noch nie als Live-Reporter vor Ort. Denn er beobachtet ein glückliches Liebespaar, Julie und Charles, die mit zwei Kindern am Ufer eines Flüsschens flanieren. Eines der Kinder ist Helene, das zweite ein blondes Büblein von besonderer Schönheit. Er wird bevorzugt behandelt, ein echtes Kind der Liebe, sprich: der Marquis d’Aiglemont wird wohl nicht der Vater sein.
Man hat einmal den Versuch unternommen, Kaltblütig von Truman Capote zu lesen. Doch diese kleinbürgerliche Mittelwest-amerikanische Idylle hat einen dermaßen genervt, diese protestantische Rechtschaffenheit, die Arbeit, die Prüderie und das Wurzelbier, dass man dachte: Wann müssen diese unerträglichen Kotzbrocken denn endlich über die Klinge springen?
So ähnlich geht es einem bei dieser Szene an der Uferböschung, und man ist nicht allein. Auch Helene ist abgeturnt von der Bevorzugung ihres Bastardbruders. In einem unbeobachteten Moment (nur Balzac/der Ich-Erzähler ist Zeuge) gibt sie dem quiekenden Wonneproppen einen dezenten Schubs: „Ich hörte die durchdringenden schrillen Schreie des armen Kleinen, aber bald erstickte seine Stimme im Schlamm, wo er verschwand mit einem dumpfen Ton wie ein Stein, der untergeht.“
Weiter heißt es nur: „Helene hat vielleicht ihren Vater gerächt. Ihre Eifersucht war sicher das Schwert Gottes.“ Und ja, auf jeden Fall hat sie eine Lanze für die Monogamie gebrochen.

Beste Figur:

Der ulkige Notar Crottat, der mit seiner Geschwätzigkeit sämtliche Finger in die Wunde des totgeschwiegenen Brudermords legt. Helene hatte im Theater einen Nervenzusammenbruch, weil Das Tal der wilden Wasser gegeben wurde. Trotz der flammenden Blicke aller Anwesenden hört er nicht auf zu quatschen, weil er beschwipst ist und sich für amüsant hält. Schließlich wird er von Vandenesse vor die Tür gesetzt.
,Mein lieber Crottat, seine Exzellenz hat vollkommen Recht gehabt, dir zu sagen, daß du nur Ungeschicklichkeiten begangen und Dummheiten gesagt hast.‘
,Warum?‘
(…) ,Mein Gott, die einfältigsten Leute geben sich Mühe, solche Dinge geheim zu halten, und du glaubst, ein Gesandter wird sie dir erzählen? Aber Crottat, ich habe dich noch nie so ohne Verstand gesehen!‘
,Danke, meine Liebe!’“

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2 Gedanken zu “Die Frau von dreißig Jahren, Teil IV

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