BAND 7: Albert Savarus, S. 38 – 81
Die fiktive Novelle spielt in der Schweiz, es ist Juli 1823. Der empfindsame Rudolf und sein Kumpel Leopold lassen sich über den Vierwaldstätter See rudern. Als sie das Dorf Gersau passieren, entdeckt Rudolf in einem Dachfenster eine hübsche Frau und beschließt, die nächsten drei Monate in ihrer Nähe zu verbringen. Seinen Freund schickt er weiter nach Luzern.
Durch seine Wirtsleute findet er heraus, dass es sich bei der schönen Unbekannten um die Engländerin Fanny Lovelace handelt, die sich die Wohnung mit einem Greis und einem stummen Mädchen teilt. Neugierig legt er sich nachts auf die Lauer und wird Zeuge eines auf italienisch geführten Gesprächs zwischen Fanny und ihrer angeblich stummen Begleiterin. Die hat ihn schon früher ins Grübeln gebracht: „Das kleine Mädchen hatte den goldtonigen Teint, der an eine Havannazigarre erinnert, feurige Augen, armenische Lider mit Wimpern, wie sie in England nicht vorkommen, rabenschwarzes Haar, und die Nerven unter fast olivfarbenen Haut vibrierten mit seltsam fiebrischer Kraft.“
Meinte Balzac nicht, dass Albert Savarus mit dieser Novelle „einige moderne Autoren“ nachahmt? Bei dieser Beschreibung liegt es einem fast auf der Zunge, wen er imitieren könnte, aber man will nicht vorschnell urteilen. Rudolf ist sich jedenfalls sicher, dass die beiden Frauen italienische Flüchtlinge sein müssen und hält es für das beste, plötzlich aus seinem Versteck aufzuspringen und ihnen auf französisch zu versichern, dass er kein Spion ist. Die olivfarbene Gina steckt ihm daraufhin einen Dolch zwischen die Rippen und schlägt vor, ihn mit einem Stein um den Hals im See zu verklappen. Auf Weisung ihrer Herrin saugt sie jedoch stattdessen die Wunde aus.
Es stellt sich heraus, dass Fanny in Wirklichkeit Francesca heißt und mit dem berühmten Mailänder Buchhändler Lamporani verheiratet ist, der sich als Greis getarnt hat. Rudolf hört nur die Hälfte dieser Auskunft, weil er bei dem Wort ‚verheiratet‘ direkt ohnmächtig geworden ist. Schließlich wollte er gerade selbst um Francescas Hand anhalten. Da diese aber an sein Potential glaubt, schlägt sie ihm einen Deal vor: Er darf sie in viehischer Treue lieben, bis ihr 65jähriger Mann gestorben ist, dann wird sie ihn heiraten. Unter der Bedingung natürlich, dass er bis dahin reich und berühmt geworden ist. Kein leichtes Unterfangen, dass noch um eine weitere Bedingung erweitert wird: „Doch vergessen Sie sich in ihrem rasenden Ehrgeiz nicht: bleiben Sie jung… Man sagt, Politik lasse einen Mann rasch altern.“
Während man sich noch über die leicht überhöhten Forderungen dieser Buchhändlergattin wundert, wird der Schleier ein zweites Mal gelüftet. In wirklicher Wirklichkeit ist Francesca nämlich die Fürstin Gandolphini, ihr Mann einer der wohlhabendsten Grundbesitzer Siziliens. Der Deal bleibt bestehen, es kann ja nur noch höchstens zwanzig Jahre dauern, bis die beiden zusammen finden dürfen. Bis dahin muss ein Briefwechsel genügen.
An dieser Stelle endet das Buch im Buch, und es fällt dem Leser, ebenso wie der lesenden Rosalie de Watteville wie Schuppen von den Augen: Rudolf und Albert Savarus sind ein und dieselbe Person! Er schuftet seit zwölf Jahren die Nächte durch, weil er das Herz seiner Gräfin erobern will.
Man erinnert sich an das biographische Detail, dass Balzac zeit seines Lebens in den Adel einheiraten möchte. Wäre es da der Unterstellung zu viel, dass er mit solchen Stoffen die Angel auswirft, in der Hoffnung, die ein oder andere Herzogin könnte anbeißen? Immerhin gilt er ja in ganz Europa als Frauenversteher. Niemand vor ihm hat die Psyche des schönen Geschlechts derart zartfühlend durchleuchtet. Ein Schelm, wer da Böses denkt.
Im Buch verfängt die Strategie jedenfalls. Rosalie bebt vor Eifersucht, und schwört sich, alles über die Verbindung zwischen Albert und seiner Fürstin herauszufinden. Und nicht nur das: „Sie liebte Albert und spürte im Herzen die mörderische Lust, ihn der unbekannten Rivalin streitig zu machen und zu entreißen.“ Das Spiel kann beginnen.
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