Gleich am ersten Tag die Frage: Mit welchem Buch der „Comédie humaine“ fängt man überhaupt an? Eine chronologische Reihenfolge gibt es nicht, Balzac hat immer an mehreren Bänden gleichzeitig geschrieben. Auch die Gesamtausgabe scheint hauptsächlich danach sortiert zu sein, die Bindung möglichst platzsparend zu gestalten. Das hat einen schon am Mahler/Bernstein CD-Set genervt. Da stößt man nicht etwa auf eine Sinfonie pro CD, sondern auf sowas: CD 4 – Symphonies Nos. 3 (IV-VI) & 6 (I-II). Um die Neunte zu hören, muss man sogar drei verschiedene CDs einlegen.
Am besten hält man sich also an Balzacs Gliederung. Er unterteilt sein Werk in drei Hauptteile, nämlich in Sittenstudien, Philosophische Studien und Analytische Studien. Das klingt jetzt nicht allzu sexy. Aber man soll ja nicht immer gleich Korn in die Flinte streuen. Werfen. Ins Korn werfen.
Der erste und bei weitem umfangreichste Teil gliedert sich in folgende Blöcke:
- Szenen aus dem Privatleben (6 Romane, 21 Erzählungen)
- Szenen aus dem Provinzleben (4 Romane, 6 Erzählungen)
- Szenen aus dem Pariser Leben (5 Romane, 16 Erzählungen)
- Szenen aus dem politischen Leben (4 Erzählungen)
- Szenen aus dem Soldatenleben (1 Roman, 1 Erzählung)
- Szenen aus dem Landleben (4 Romane)
In seiner Vorrede schreibt Balzac dazu:
„Die Szenen aus dem Privatleben stellen die Kindheit, die Jugend mit ihren Verfehlungen dar, wie die Szenen aus dem Provinzleben das Alter der Leidenschaft, des Kalküls, der Interessen und des Ehrgeizes. Danach zeigen die Szenen aus dem Pariser Leben das Gemälde der Neigungen, der Laster und der ganzen Zügellosigkeit, die die Sitten in den Hauptstädten mit sich bringen, wo sich die Extreme von Gut und Böse treffen.
(…) Nachdem ich in diesen drei Büchern das soziale Leben geschildert hatte, galt es noch, die besonderen Existenzen zu zeigen, die die Interessen mehrerer oder aller zusammenfassen und irgendwie außerhalb des allgemeinen Gesetztes stehen: daher die Szenen aus dem politischen Leben. Und als dieses riesige Gesellschaftsgemälde beendet und vollendet war, mußte ich da nicht auch ihren gewalttätigsten Stand zeigen: den, der aus ihr heraustritt, um sie zu verteidigen oder um zu erobern? Daher die Szenen aus dem Soldatenleben (…)
Die Szenen aus dem Landleben stellen schließlich so etwas wie den Abend dieses langen Tages dar, wenn ich das soziale Drama so nennen darf. In diesem Teil finden sich die reinsten Charaktere und die Anwendung der großen Prinzipien Ordnung, Politik, Moral.“
Bevor man sich nun auch noch von der Erläuterung der Philosophischen und Analytischen Studien erschlagen lässt, greift man am besten einfach zum ersten Band der Szenen aus dem Privatleben, das Popcorn droht nämlich schon kalt zu werden.
BAND 1: Das Haus zur ballspielenden Katze, S.1 – 48
Rue Saint-Denis, Paris, irgendwann während der Kaiserzeit. Ein junger Mann mit brennenden Augen und Locken, die „auf eine Frisur in der Art Caracallas schließen“ lassen, beobachtet das Haus zur ballspielenden Katze. Es beherbergt das Geschäft und die Wohnräume der Tuchhändler-Familie Guillaume. Trotz üppigen Wohlstandes werden die Töchter des Hauses – die knochige Virginia und ihre jüngere Schwester Augustine – in bescheidenen Verhältnissen und an sehr kurzer Leine gehalten.
Augustine hat „Augen, die von vornherein durch die erhabenen Schöpfungen Raffaels unsterblich geworden sind: dieselbe Anmut, dieselbe Ruhe wie bei seinen sprichwörtlich gewordnen Jungfrauen.“ Kein Wunder also, dass der junge Mann vor ihrem Haus herumhängt. Es ist nämlich der berühmte Maler Theodor von Sommervieux, der sie acht Monate zuvor durchs Fenster beim Abendessen mit ihrer Familie beobachtet hat. „Seine am Poetischen genährte Seele“ wandelten diesen Eindruck in zwei Bilder um, die auch schon im Louvre ausgestellt sind und ganz Paris in Begeisterung versetzen.
Augustine kriegt Wind davon, schaut sich die Bilder an und erkennt, dass sie geliebt wird. Natürlich verknallt sie sich dadurch auch sofort in den schmachtenden Künstler. Nun fangen die Verwicklungen an. Frau Guillaume hüpft aus dem Koffer, weil Augustine so umtriebig ist. Herr Guillaume will, dass sein treuer Lehrling sie heiratet, obwohl der eigentlich die längst überreife Virginia verräumen sollte. In dieses Chaos stürzt dann noch Tante Roguin, die eine Lanze für den Maler bricht, weil der bald Baron wird und sagenhaft reich ist. Sein Talent wurde gerade erst von Napoleon persönlich gelobt.
Hier ist Halbzeit. Man würde sagen, das Liebespaar führt 2:1 gegen die widrigen Umstände.
Pingback: Eine Stunde Balzac | CLINT LUKAS
Pingback: Das Haus zur ballspielenden Katze, Teil II | CLINT LUKAS