BAND 76: Das rote Wirtshaus
Ein Ich-Erzähler, man könnte ihn spaßeshalber einfach mal Honoré nennen, ist zu Gast bei einem Festessen, an dem unter anderem der Bankier Taillefer, sowie dessen deutscher Kollege Herr Hermann teilnehmen. Honoré lobt ihn und mit ihm alle Deutschen: „Er war der echte Sohn des reinen und edlen Germanien, das so fruchtbar ist an ehrenwerten Charakteren, deren friedfertige Sitten sich selbst nach sieben Invasionen nicht verleugnen.“ Das ist wirklich lieb gemeint, auch wenn die Geschichte dann einen anderen Turn genommen hat.
Beim Nachtisch wird Hermann darum gebeten, einen Schwank zu erzählen, und er lässt sich nicht zweimal fragen. Es geht darin um zwei junge, französische Feldärzte, die gerade durchs kriegsgebeutelte Rheinland ziehen und schließlich an keinem anderen Ort als Andernach Halt machen. Andernach, die Geburtsstadt Charles Bukowskis! Eine fabelhafte Koinzidenz. Hermann, dessen Stil und Vorliebe für ausufernde Beschreibungen erstaunliche Ähnlichkeit mit denen Balzacs aufweist, berichtet, wie die beiden Jungs im sogenannten „Roten Wirtshaus“ absteigen und mit einem Kaufmann ins Gespräch kommen. Kurz bevor die drei sich zur Nachtruhe begeben, gesteht der Kaufmann, dass er 100.000 Francs in Gold und Diamanten bei sich hat.
Das ist natürlich eine etwas heikle Information. Während der eine der Ärzte sofort einschläft, wälzt der andere mit Namen Prosper Magnan sich pausenlos herum und malt sich aus, was er mit soviel Geld alles anfangen könnte. Er kommt zu dem naheliegenden Schluss: „Er stellte schon in Rechnung, daß er bei der Handhabung seiner Instrumente eine solche Geschicklichkeit erworben hatte, daß er sein Opfer köpfen konnte, ohne daß es einen einzigen Schrei ausstieß.“
Warum jemanden einfach nur abstechen, wenn man auch eine richtige Sauerei anrichten kann. Prosper bereitet alles vor, kümmert sich um den Fluchtweg, kriegt dann aber Muffensausen. Die halbe Nacht rennt er das Rheinufer hoch und runter, legt sich dann als stolzer Besitzer eines guten Gewissens hin. Doch ach, man hat es bereits geahnt, am nächsten Morgen liegt der Kaufmann trotzdem ohne Kopf da. Prospers Kumpel ist verschwunden, er glaubt aber dermaßen fest an dessen Unschuld, dass er sich lieber hinrichten lässt, als ihn der Tat zu beschuldigen.
Die ganze Zeit, während Hermann diese Geschichte erzählt, beobachtet Honoré den Bankier Taillefer, der sich zunehmend auffällig verhält. Es stellt sich heraus, dass er der zweite Arzt war, der den Kaufmann eiskalt ermordet und mit den Hunderttausend sein Vermögen begründet hat. Dummerweise ist Honoré in seine Tochter verliebt. Die ihn sogar heiraten will. Doch kann er annehmen, wenn diese Familie dermaßen mit Blut befleckt ist? Er beruft einen Rat seiner klügsten Freunde ein, die ihm in dieser moralischen Zwickmühle helfen sollen. Sie stimmen auch mit absoluter Mehrheit dagegen, Taillefers Tochter zu heiraten. Doch das schönste an Ratschlägen ist nun mal, dass man sie ignorieren kann: „Habe ich das Recht, ein von mir erschlichenes Geheimnis zu verraten, die Mitgift eines jungen, unschuldigen Mädchens um einen abgeschnittenen Kopf zu vergrößern, ihr böse Träume zu verursachen, ihr eine schöne Illusion zu rauben?“ Nein, so zimperlich muss man nun wirklich nicht sein.
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