Am vergangenen Abend erneut in der italienischen Oper gewesen, diesmal allerdings in Charlottenburg. Nabucco, Guiseppe Verdi. Tolles Haus, tolle Inszenierung, tolle, wenn auch etwas seichte Musik. Man merkt ihr das Frühwerk an. Schön viel Chor, man mag es ja opulent, doch für das Thema (die drohende Vernichtung des hebräischen Volkes durch die Assyrer unter Nebukadnezar) hätte man sich mehr moll-Tonlagen gewünscht. Nur Franzosen sind in der Lage, auf dem Schafott noch in Dur zu singen.
Das einzige, was leider überhaupt nicht funktioniert an dem Abend, ist das Publikum. Die eine Hälfte ist nur gekommen, um ihre Atemwegsinfektionen abzuhusten. Die andere unterhält sich und tut so, als wäre irgendwie Pause, wenn gerade niemand singt. Außerdem besteht wieder mal Konsens darüber, dass an den absurdesten Stellen applaudiert werden sollte. Zum Beispiel nach jeder verfickten Szene. Die dadurch entstandene Unruhe wird ebenfalls für ein kurzes Schwätzchen benutzt. Wer in der Oper übermäßig klatscht, klatscht auch beim Landen des Flugzeugs. Ist natürlich erlaubt, man outet sich dabei halt als Kretin.
BAND 71: Das Chagrinleder, S. 221 – 284
Rafael hat seinen Lebenswillen verloren und taucht deshalb mit Rastignac in die tiefsten Tiefen der Selbstzerstörung hinab: „Ich wurde ein Lebemann, wie man das bei euch nennt, ich setzte meinen Ehrgeiz darein, mich recht rasch ins Grab zu bringen und dabei die lustigsten meiner Gefährten durch meine gute Laune und meine Unermüdlichkeit auszustechen.“ Man fühlt sich an den lieben Kochfreund Sven erinnert, der genauso handelte und es auch geschafft hat, sich ins Grab zu bringen, statt nur darüber zu quatschen.
Nachdem er Emile Blondet seine Geschichte erzählt hat, scheint Rafael sich wieder daran zu erinnern, dass er ja nun einen Talisman hat, der ihm Wünsche erfüllt. Allerdings ahnt er auch, dass jeder einzelne Wunsch nicht nur das Chagrinleder schrumpfen lässt, sondern auch seine eigene Lebensdauer. Um sicherzugehen, zeichnet er die Umrisslinien des Leders auf einer Serviette nach. Dann wünscht er sich unermesslichen Reichtum und tatsächlich – das Leder wird kleiner.
Man sagt sich: Soll er sich halt die drei, vier wichtigsten Sachen wünschen und dann damit aufhören, damit der Fluch nicht weiter fortschreiten kann. Genau dies scheint Rafael auch zu denken. Nach einem Zeitsprung lebt er in einem riesigen Palais und lässt niemanden zu sich vor. Stellt sich nämlich heraus: Selbst wenn nur in seinen Gedanken ein kurzer Wunsch aufblitzt, wird dieser vom unbarmherzigen Leder sofort erfüllt. Als sein Diener einen ehemaligen Professor Rafaels vorlässt, der ihn um einen Gefallen bittet, schrumpft das Leder nach Kurzem, vermutlich weil der Dichter genervt ist und sich nach Ruhe sehnt: „Wenn du noch so einen Fehler wie diesen machst, kannst du mich an die Stätte bringen, wohin ich meinen toten Vater gebracht habe. Wäre es nicht besser gewesen, ich hätte die schöne Feodora besessen, anstatt mir dieses alte Gerippe da, dieses Lumpenzeug von einem Menschen, zu Dank zu verpflichten?“
Schließlich geht er aber doch ins Theater (die italienische Oper natürlich), wo er auf den plötzlich jünger gewordenen Antiquitätenhändler trifft, der ihm das Chagrinleder geschenkt hat. Sieht so aus, als würde die verlorene Lebenskraft Rafaels auf diesen Mephisto übergehen. In einer Loge sitzt überdies Feodora und dämpft die Stimmung noch weiter. Schließlich kommt jedoch eine andere Frau in Rafaels Loge, eine Frau, so schön, dass der ganze Saal ins Staunen kommt. Sie setzt sich neben Rafael, die beiden schauen sich nicht an. Allerdings pufft sie ihn die ganze Zeit mit ihrem Outfit an, raschelt mit Tüll, kitzelt ihn mit Marabufedern, bis sich herausstellt: Es ist Pauline, die Tochter der Wirtin aus seinem Armenasyl, die schon immer in ihn verknallt war. Ist das ein Zufall? Oder hat Rafael sich beim Anblick Feodoras wieder aus Versehen etwas gewünscht?
Beste Stelle:
Rastignacs Life-Hacks, wie man sich am besten selbst ins Jenseits befördert:
„,Was hältst du vom Opium?‘ – ,Man leidet schrecklich dabei!‘ erwiderte Rastignac.
,Und Kohlenoxydgas?‘ – ,Das ist pöbelhaft.‘
,Und die Seine?‘ – ,Die Netze und die Morgue sind zu dreckig.‘
,Und ein Pistolenschuß?‘
,Wenn du dich fehlst, bist du entstellt. Hör zu! Ich habe, wie alle jungen Leute, viel über den Selbstmord nachgedacht. Denn jeder von uns hat sich mit dreißig Jahren schon zwei- oder dreimal umgebracht. Ich habe nichts Besseres gefunden, als seine Existenz im Genusse aufzubrauchen.“
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