BAND 71: Das Chagrinleder, S. 100 – 147
Rafael erzählt Emile seine Lebensgeschichte. Aufgezogen von einem strengen Vater, der ihn zu einem fanatischen Rechtsstudium antreibt, kennt er mit zwanzig Jahren keinerlei Genüsse oder Vergnügen. Dann stirbt sein Vater und hinterlässt ihm nur tausend Francs. Mit denen schließt Rafael sich drei Jahre lang in einem Dachzimmer ein und schreibt. Eine Komödie, die ihn finanziell unabhängig machen soll und eine wissenschaftliche Abhandlung mit dem schmissigen Titel „Theorie des Willens“. Währenddessen träumt er davon, von einer Frau geliebt zu werden, doch die Frauen interessieren sich leider nur für oberflächliche Schleimer: „Die Frauen haben die Neigung, an einem begabten Menschen nichts als seine Fehler zu sehen – und an einem Flachkopf nur seine Vorzüge; (…) der überlegene Mann aber bietet ihnen nicht genug Vergnügen, um damit seine Unvollkommenheiten aufwiegen zu können. Das Talent ist ein Wechselfieber – keine Frau möchte seine bösen Dinge mit in Kauf nehmen; alle wollen in ihren Liebhabern nur Anlässe zur Befriedigung ihrer Eitelkeit haben, denn sie selbst sind es, was sie in uns lieben. Ein Mann, der arm und stolz ist, ein Künstler mit der Macht seines Schaffens, ist beleidigend egoistisch, nicht wahr? Um ihn kreist ein Wirbelsturm von Gedanken, in den er alles hineinreißt, selbst seine Geliebte, die der Bewegung folgen muß. Kann eine verwöhnte Frau an die Liebe eines solchen Mannes glauben? Wird sie sie suchen? Ein solcher Liebhaber hat nicht Zeit genug, sich neben ihrem Diwan all den kleinen Äffereien des Gefühls zu überlassen, auf die Frauen so viel halten und in denen die falschen und gefühllosen Männer so viel leisten. Er hat nicht einmal zu seinen Arbeiten Zeit genug – woher sollte er denn die Zeit nehmen, sich zu erniedrigen und lächerliches Zeug zu treiben?“
Das ist das mit Abstand längste Zitat, das in diesem Blog bisher aufgetaucht ist. Man selbst würde es stellenweise charmanter formulieren. Auch hart arbeitende Künstler können ja durch Gefühle einen Lustgewinn verspüren. Vor allem aber schließt dieses Szenario die Möglichkeit aus, sich als Partner einen Menschen zu suchen, der ebenfalls künstlerisch unterwegs und deshalb mit den gleichen Abgründen vertraut ist. Trotzdem fühlt man sich vom Meister sehr verstanden, denn dieser Konflikt zieht sich wie ein roter Faden durch die eigene Beziehungsgeschichte.
Der liebe Rafael jedenfalls kriegt erstmal eine Standpauke von Rastignac, der plötzlich als zusätzliche altbekannte Figur auftaucht und dabei cooler ist, als jemals zuvor. Er bläut Rafael ein, dass man es mit Arbeit nie zu etwas bringt. Beziehungen muss man knüpfen, das ist alles, was zählt. Er will seinen Freund einer schwerreichen Gräfin namens Feodora vorstellen, die bisher sämtliche, selbst hochadelige Freier abgewiesen hat: „Er schilderte sie mir geizig, eitel und mißtrauisch, aber geizig auf prunkvolle Weise, eitel voll Einfalt und gutmütig bei allem Mißtrauen“. Na, wenn sich der jungfräuliche Dichter da mal nicht in die Nesseln setzt.
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