BAND 55: Tante Lisbeth, S. 385 – 433
Allen Vorhaltungen ihrer Mutter zum Trotz entscheidet sich Hortense für den einzig vernünftigen Weg: Als sie ihren Mann beim Fremdgehen erwischt, verlässt sie ihn augenblicklich. Man ist ja genervt von der netz-feministischen Beschwörung des modernen Patriarchats, doch wenn man die Reaktion von Hortenses Vater, des Barons, liest, ist man froh, in der Gegenwart des emanzipierten Westens zu leben. Gaslighting in Reinform: „Liebes Kind, ich bin untröstlich, dich in solcher Verfassung zu sehen. Aber solltest du nicht ein wenig dich übernommen haben? Es hat also einen kleinen Ehestreit gegeben… und du hast gleich einen Höllenspektakel daraus gemacht! Das macht deiner guten Erziehung diesmal keine Ehre.“
Als Hortense ihm daraufhin zurecht vorwirft, dass er die größte Drecksau von allen ist, und danach kollabiert, denkt der Baron bei sich: „Da sind wir also wieder bei den Tränen angelangt (…) Teufel auch! Und es ging doch ganz gut am Anfang. Mit diesen Heulweibern ist natürlich nichts Gescheites mehr anzufangen.“
Es ist schwierig, die Rolle der Tante Lisbeth während all dieser Verwicklungen zu beschreiben. Im Grunde rennt sie von A nach B und hetzt vorsätzlich, auf zuckersüße Art, alle Parteien noch mehr gegeneinander auf. Sie hofft, den Bruder des Barons, den alten Marschall Hulot, zu heiraten, und dadurch Gräfin von Pforzheim zu werden. Cooler Titel.
Valerie Marneffe jongliert derweil weiter mit ihrem Glück und redet all ihren Lovern ein, sie wären der Vater des Kindes in ihrem Bauch: „Mit Hilfe dieses die Eitelkeit der Männer aufstachelnden Tricks hatte Valerie eine Tischgesellschaft von Liebhabern zusammen, von denen sich jeder einzelne für den ausgewachsenen Hahn im Korbe hielt.“ Sogar Wenzeslaus gehört dazu, obwohl der anscheinend noch nicht mal Sex mit ihr hatte. Angesichts einer solchen Überzeugungskraft könnte man staunen. Man könnte aber auch sagen, dass Balzac seinen Roman hier arg an die Grenzen der Glaubwürdigkeit bringt. Anyway, die Hexen Valerie und Tante Lisbeth treiben weiter ihr böses Spiel, alles steuert auf einen Showdown zu. Man ist mal wieder genervt davon, niederträchtige Machtspielchen bezeugen zu müssen, aber es gibt Momente des Vergnügens. Alles in allem: Tante Lisbeth – thumbs up!
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