BAND 55: Tante Lisbeth, S. 91 – 130
Man erfährt, wie es zu der merkwürdigen Beziehung zwischen Lisbeth und dem polnischen Emigranten Wenzeslaus Steinbock gekommen ist. Er ist nämlich ihr Nachbar und wollte sich wegen seiner Armut umbringen (mit Kohlegas, der beliebtesten Selbstmordmethode bei Balzac). Lisbeth hat ihn ohne sein Einverständnis gerettet und drei Jahre lang durchgefüttert. Das ist einerseits nobel, andererseits behandelt sie ihn inzwischen wie einen Sklaven. Vor allem will sie nichts von seiner Sehnsucht nach Frauen wissen: „Sie liebte Steinbock stark genug, um auf seinen Körper zu verzichten, und doch so maßlos egoistisch, um ihn keiner anderen Frau zu gönnen. Sie verstand es nicht, sich damit zu begnügen, wie eine Mutter mit ihm zu leben. Und doch hielt sie sich für verrückt, wenn ihr manchmal Gelüste kamen, auch noch eine andere Rolle in seinem Leben zu spielen.“
Eine interessante Konstellation. So wie Lisbeth dürften sich auch all diejenigen fühlen, die in einer offenen Beziehung die Opferrolle spielen. Dass so etwas funktioniert, hört man ja immer nur von dem stärkeren Part, der emotional nicht so involviert ist, und deshalb nach Lust und Laune rumvögeln kann. Die andere Hälfte verkümmert derweil zuhause und versucht sich einzureden, dass alles in bester Ordnung ist.
Wenzeslaus sitzt jedenfalls in der Tinte. Als Künstler ist er nicht produktiv genug, sich aus den Schulden bei Lisbeth freizukaufen. Er ist ihr in einer heftigen Hassliebe verfallen: „Manchmal, wenn ein Funken von Energie in ihm aufflammte, und das Gefühl des Unglücks seine Erbitterung noch erhöhte, stand er Lisbeth gegenüber wie ein durstgequälter Wanderer in wasserarmer Gegend vor einem Salzwasserquell.“ Es dürfte auf jeden Fall interessant werden, sollte die hübsche Hortense auf den Plan treten und ihm den Kopf verdrehen.
In der Zwischenzeit will der Baron von Hulot seine gierige Mätresse Josepha aufsuchen. Allerdings muss er feststellen, dass sie bereits einen neuen Sugardaddy hat, den Herzog von Hérouville, der ihr mal eben ein Haus kauft, inklusive einer Galerie mit Tizians und Rembrandts. Der verarmte Baron weiß, dass er ausgespielt hat, doch zur Sicherheit reibt Josepha es ihm nochmal ausdrücklich unter die Nase. Sie erinnert einen dabei an die wundervolle Blanche de Cominges aus Dostojewskis „Der Spieler“, insgesamt macht dieses Buch bisher großen Spaß: „Eigentlich solltest du mir dankbar sein, daß ich dich beizeiten abgehalftert habe. Sonst hättest du noch deine Frau und deine Tochter verkauft für die Kleinigkeiten, die du so dann und wann mir bringen durftest… Wie… Du willst doch nicht etwa hier flennen? Der König ist tot, es lebe der König!“
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