Es ist einer dieser Lagerkoller-Tage. Man hat längst begonnen, Doppelschichten zu schieben, um das Ratgeber-Manuskript bis zum ersten November fertig zu kriegen. Soll heißen, man schreibt in der Frühe drei Seiten, legt sich ein bis zwei Stunden aufs Ohr, und schreibt dann nochmal drei Seiten. Auf die lange Sicht wäre ein derart erhöhtes Tempo nicht nötig, aber man möchte für Ausfalltage vorsorgen, die sich zwangsläufig einstellen werden. Und über all dem die Möglichkeit, dass Genosse Putin die Region Cherson zu russischem Staatsgebiet erklärt und mit Atomwaffen antwortet, sollte die Ukraine versuchen, sie zurück zu erobern.
Es ist ein Tag, an dem man gern ausbrechen möchte. Ins Flugzeug steigen, um Freund Stefan in Wien zu besuchen, in den Zug steigen, um mit Freund Moses in München auf die Wiesn zu gehen. Am liebsten würde man das Naherholungsgebiet aufsuchen, das am einfachsten zu erreichen ist: Die Küche im Restaurant von Freund Sven. Man könnte wie früher beim Kochen helfen, trinken und sich die Nase pudern. Was man am folgenden Morgen bereuen würde, man würde schimpfen auf die eigene Maßlosigkeit, doch immerhin wäre das Hirn wieder freigespült. Freund Sven ist jedoch tot, gestorben im Juni, das Naherholungsgebiet für immer verschwunden. Man beißt also die Zähne zusammen, schreibt weiter, liest eine Stunde Balzac.
BAND 53: Vetter Pons, S. 341 – 393
Es geschieht alles genau so, wie von Pons erwartet. Frau Cibot bricht bei ihm ein, um sein Testament zu stehlen. Schmucke erfährt dadurch endlich, was für ein verlogenes Miststück sie ist, doch ändern tut sich dadurch im Grunde nichts. An ihre Stelle setzt der Advokat Fraisier nämlich direkt die nächsten Horrorweiber, die nicht mal Pietät walten lassen, als Vetter Pons sein Leben aushaucht. Grob halten sie den geschockten Schmucke dazu an, die Hand seines toten Freundes loszulassen, „sonst können Sie sie nicht mehr wegnehmen; Sie wissen nicht, wie hart die Knochen werden! Die Erstarrung der Toten vollzieht sich schnell. Wenn man einen Leichnam nicht zurechtlegt, solange er noch warm ist, muß man ihm nachher die Glieder zerbrechen…“
Schmucke verfällt durch seinen Schmerz in eine Art Trance, man fühlt sich an den somnambulen Agent Cooper aus der 3. Staffel von „Twin Peaks“ erinnert. Beinahe leblos wird er zur Behörde geschleift, um den Tod seines einzigen Freundes zu bezeugen. Dort wird er prompt von den Aasgeiern der Bestattungsinstitute belagert, die fette Beute riechen: „Wir lassen Familiengräber ausheben… wir befassen uns mit allem zum billigsten Preis. Unser Haus hat das prächtige Grabmal für die schöne Esther Gobsek und Lucien de Rubempré geliefert, es ist eine der schönsten Sehenswürdigkeiten des Père Lachaise.“ (Wo man heute eher Marcel Proust, Jim Morrison, oder, haha, Honoré de Balzac besucht.)
Man muss schon sagen: Balzac macht das sehr stark. Unter normalen Umständen könnte es einem ein dämonisches Lachen entlocken, wie er mit Schmucke als Opfer die Abgründe der Gesellschaft aufzeigt. Leider fühlt man sich ziemlich getriggert, weil es nach Svens Tod genauso haarsträubend zuging. Gestorben am 28. Juni, konnte er aufgrund des Berliner Verwaltungschaos erst am 2. September bestattet werden. Ein Alptraum für alle Beteiligten, der einem zeigt: Mit dem Tod fangen die Qualen meistens erst an. Oder in den Worten des Meisters: „Man macht sich keinen Begriff davon, was die tausend Vorschriften des Gesetzes für den echten Schmerz bedeuten. Sie bringen einen dazu, die Zivilisation zu hassen und die Sitten der Wilden vorzuziehen.“
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