Man hat sich noch nicht vom Arbeitseinsatz beim Autorennen erholt, ist auch noch nicht richtig in Berlin angekommen. So müssen sich Männer fühlen, die auf Montage waren. In dieser Stimmung wendet man sich Balzac zu, dem letzten Teil der Kurtisanen, genannt Vautrins letzte Gestalt. Es wird also um den Todtäuscher gehen, den mag man zum Glück am liebsten. Doch kaum hat man ein paar Seiten gelesen, fängt Balzac mit seiner anstrengenden Schachtelstruktur an. Zur Veranschaulichung: Es geht eigentlich um die Begegnung des Todtäuschers mit drei Verbrechern im Gefängnishof. Könnte man doch einfach so hinschreiben. Der Meister lässt es jedoch lieber in Wellen kommen.
1. Welle: „Es scheint uns, daß diese ,Sittenschilderungen‘ ihren Titel Lügen strafen würden, wenn hier eine genaue Beschreibung dieses Pariser Pandämoniums fehlte.“ Folgt also eine elend lange Beschreibung des Gefängnishofes, nachdem man sowieso schon über jeden Flur und jedes Zimmer der Conciergerie informiert wurde.
2. Welle: „Da die Spaziergänger (…) die Mitwirkenden in einer der wichtigsten Szenen im Leben des Todtäuschers sein sollten, ist es vielleicht nicht unwichtig, einige der Hauptfiguren dieser furchtbaren Versammlung zu beschreiben.“ Na schön, go for it.
3. Welle dann: „An dieser Stelle ist eine Abschweifung nötig;“ …
Jede Tätigkeit, im richtigen Geist vollbracht, ist religiöse Übung. Auch wenn man dabei mit den Zähnen knirscht.
BAND 48: Glanz und Elend der Kurtisanen, S. 568 – 618
Camusot berichtet seiner Frau, dass er Scheiße gebaut hat. Durch sein Verhör hat er Lucien in den Selbstmord getrieben. Und da dadurch auch aufzufliegen droht, dass der Dichter mit dem Verbrecher Jacques Collin zu tun hatte, drohen nun auch einige hochadelige Namen in die schmutzige Angelegenheit hineingezogen zu werden.
Dann wendet sich Balzac dem Todtäuscher zu, allerdings erst, nachdem er einem auseinander gesetzt hat, warum das Buch auch ohne Lucien lesenwert ist: „Nun das kleine Wachtelhündchen tot ist, muß man sich doch fragen, ob sein furchtbarer Gefährte, der Löwe, weiterleben wird.“
Der ärmste weiß derweil noch gar nichts vom Tod seines Schützlings. Als er es dann erfährt, bricht er so spektakulär zusammen, dass ihn alle Anwesenden für seinen leiblichen Vater halten (was er ja auch behauptet hat). Im tiefsten Kummer wird er dann von seinem alten Feind Bibi-Lupin in den Gefängnishof geschickt, wo er auf drei der Verbrecher treffen wird, deren Geld er mit Lucien durchgebracht hat. Eine gefährliche Situation.
Beste Stelle:
Während alle am Boden zerstört sind wegen Luciens Tod, interessieren sich die Gefängniswärter nur für die Eisenstange, die von Frau von Sérizy im Wahn zerstört wurde: „Allerdings war für sie das große Ereignis nicht etwa die Tatsache, daß dieser schöne junge Mensch so plötzlich zu einem Kadaver geworden war, sondern daß die schmiedeeiserne Stange im ersten Gitter der Conciergeriepforte von den zarten Händen einer Dame der Gesellschaft zerbrochen werden konnte.“
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