Man ist mal wieder auf Arbeit und soll beim Paketshop ein Päckchen für den nicht anwesenden Chef abholen. Wie jeder wurde man schon unzählige Male in Postfilialen und Spätis gedemütigt, weil man keine ordentliche Vollmacht hatte. Deshalb geht man immer geharnischt zu diesen allmächtigen Institutionen, spielt auf dem Weg die möglichen Szenarien durch, Gewaltphantasien inbegriffen. Vor allem bei diesem Späti in der Reginaldstraße ist man bereits unangenehm aufgefallen, weil das vom polnischen Inhaber genuschelte „Straße, Hausnummer?“ nicht verstanden wurde und man nachfragen musste. Fünfhundert Minuspunkte.
An diesem Tag ist man aber darauf vorbereitet, hat auch ein ausgedrucktes Blatt mit Ausweis, Visitenkarte und Vollmacht des Chefs dabei. Schweigend holt der Inhaber das Päckchen aus dem Regal, scannt grimmig das Etikett. Zwischendurch wirft er nur einen flüchtigen Blick auf die Vollmacht, beschäftigt sich dann weiter mit seinem Scanner. Man liegt auf der Lauer, um eine pampige Bemerkung sofort kontern zu können.
Doch plötzlich schaut einem der Gegenüber in die Augen, wenn er lächeln könnte, würde er das womöglich tun, und hebt dann langsam einen Daumen. Gut gemacht. Noch nie hätte er einen so gut vorbereiteten Abholer in seinem Laden begrüßt. Geschmeichelt stottert man, dass man das aus früheren Fehlern gelernt habe. Dann verlässt man mit dem Päckchen den Laden, das stolze Grinsen ist nicht aus dem Gesicht wegzukriegen.
BAND 31: Verlorene Illusionen, S. 446 – 500
Die Hybris des kleinen Lucien nimmt die Ausmaße eines saftig blühenden Furunkels an. Statt sich zu freuen, dass alles läuft mit seiner Karriere und Coralie, rächt er sich kleinmütig an allen Ketzern, die es gewagt haben, mal für eine Sekunde nicht seine Göttlichkeit zu verherrlichen. Das muss Konsequenzen haben, und als schadenfrohes Subjekt wünscht man sie dem Emporkömmling auch. Vorerst scheint alles gut zu laufen: „Er zeigte sich im Foyer, indem er Merlin und Blondet den Arm gab, und schaute den Dandys ins Gesicht, die ihn damals verspottet hatten. Er setzte Châtelet den Fuß in den Nacken!“
Es wird ihm zwar nahegelegt, zu seinem eigenen Vorteil Frieden mit Madame de Bargeton und du Châtelet zu schließen, aber Lucien setzt noch einen drauf und schreibt einen hundsgemeinen Artikel über die beiden: „Er wurde an diesem Tag eines der geheimsten und größten Genüsse des Journalisten teilhaftig: das Epigramm zu spitzen und den kalten Stahl zu glätten, dessen Scheide das Herz des Opfers ist, und den Griff für den Leser kunstvoll zu schnitzen.“
Ganz Paris lacht über die beiden Feinde Luciens. Er könnte sich nun auf seinem Platz einrichten und der spöttische Journalist bleiben, dem jedes geschriebene Wort aus der Hand gerissen wird. Aber es braucht nur einen kleinen Wink der Mächtigen, um ihn ins Wanken zu bringen. Noch immer haftet ihm ja der Makel an, dass er nur ein Bürger mit dem Namen Chardon ist. Als der Herzog de Rhétoré ihm den Floh ins Ohr setzt, seinen Adelstitel und den Namen de Rubempré vom König zu beanspruchen, ist der Opportunist in ihm sofort Feuer und Flamme. Als Leser wird man natürlich sofort eingeweiht, dass die beleidigten Aristos dem Dichter damit eine Falle stellen.
Lucien führt sich derweil auf wie eine Sau, schreibt Verrisse nur noch aus gekränkter Eitelkeit: „,Du brauchst einen Grund, wenn du das Stück von gestern herunterreißen willst. Reißt man aus bloßem Vergnügen herunter, so stellt man die Zeitung bloß. Wenn wir uns zum Richter aufwerfen wollten, verlören wir alle Wirkung. Hat der Direktor einen Verstoß begangen?‘ ,Er hatte mir keinen Platz freigehalten.‘“
Eine Party folgt auf die nächste, Coralie und Lucien leben auf großem Fuß und übersehen dabei, dass ihnen der Kredit nur vorläufig und dank des Sugardaddies Camusot gewährt wird. Scott und Zelda Fitzgerald wirken gegen die beiden direkt verantwortungsbewusst. Schließlich wird Lucien ein zweites Mal zur Marquise d‘Espard eingeladen, die so tut, als würde sie seine Angriffe auf Châtelet gut heißen. „Lucien wußte nicht mehr, was er denken sollte. Eingeweiht in die Verrätereien und Perfidien des Journalismus kannte er die der Gesellschaft nicht; daher sollte er trotz seiner Umsicht böse Erfahrungen machen.“
Wo dieser Tölpel jemals Umsicht hat walten lassen, ist unklar, aber böse Erfahrungen klingt gut.
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