Verlorene Illusionen, Teil V

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106 Sekunden. Das Kind spielt mit seiner Puppe auf dem Balkon. Man hört die kleine Stimme, halb singend, halb plappernd. Sie kennt nichts als Frieden. Man frühstückt zusammen, Honey Pops und grüne Äpfel. Danach unterhält man sich über Leberflecken. Das Kind fragt, ob man bald wieder zum Hautarzt geht, weil einer der Flecken bedenklich aussieht. Wie lange könnte es dauern, bis man sowas wie Hautkrebs kriegt? Sicher länger als 106 Sekunden.
1962 ist der eigene Vater geboren. Da war es auch kurz davor. Der tolle Che Guevara, Liebling der Linken, wollte das Feuer entfesseln. Die Russen und Fidel haben deeskaliert. Hätten sie sich vielleicht sparen sollen, dann wäre der Drops längst gelutscht. Man wäre niemals geboren worden und müsste keine Angst um das Kind haben.
106 Sekunden. So lange dauert es, bis die Atomraketen aus Kaliningrad in Berlin sein können. Wo werden sie einschlagen? Reicht die Druckwelle vom Regierungsviertel bis zum Humboldthain? Gut, dass es da kein Frühwarnsystem gibt. Das würde sonst eine ziemliche Schwermut auf den Morgen werfen.
106 Sekunden.
Happy Tag der Befreiung.

BAND 31: Verlorene Illusionen, S. 200 – 243

Lucien und Louise fahren heimlich mit der Kutsche nach Paris. Schon auf dem Weg verscherzt es sich der junge Dichter mit seiner Gönnerin, weil er einfach nicht cool genug ist: „Lucien hatte noch nicht erkannt, daß bei Frau Bargeton die Liebe auf den Hochmut gepfropft war. Er unterließ es, sich klar zu machen, was es bedeutete, wenn Louise während dieser Reise manchmal lächelte, und zwar immer dann, wenn er, statt seine Freudensprünge zu verbergen, sich wie eine junge Ratte, die aus ihrem Loch herausgekommen ist, gehen ließ.“
Noch bevor er am nächsten Nachmittag wach wird, sucht der durchtriebene Baron Châtelet die zweifelnde Louise auf und macht ihr klar, dass sie sich von Lucien trennen muss, wenn sie nicht lächerlich erscheinen will. Noch verteidigt sie ihn.

Am Abend dann großes Treffen in der Oper mit ihrer Cousine, der Marquise d’Espard, die man schon aus anderen Bänden, vor allem Die Entmündigung als gefährlichste Schlange der Stadt kennt. Auch Lucien darf mitkommen und verbringt den Tag in entsprechender Aufregung. Bei einem Spaziergang wird ihm klar, wo er steht: „Leute, die in der Provinz irgendwie ein Ansehn genießen und bei jedem Schritt an ihre Wichtigkeit erinnert werden, gewöhnen sich nicht an diesen völligen und plötzlichen Verlust ihres Wertes. Zu Hause etwas und in Paris nichts sein, das sind zwei Zustände, die nach Übergängen verlangen; wer zu unvermittelt aus dem einen in den anderen gerät, verliert sein Selbstbewußtsein.“
Man war zwar auch schon ein Nichts, bevor man als junges Ding nach Berlin gekommen ist, trotzdem kann man gut nachvollziehen, wie der arme Dichter sich fühlt. Zumal er mit seinen Provinzklamotten aussieht wie ein Handwerksgehilfe. Er nimmt sich dreihundert Francs, ein Betrag, mit dem er Monate überbrücken wollte, und geht erstmal shoppen.

Gleiches Problem bei Madame de Bargeton, auch ihr dringt die Landpomeranze aus jeder Pore. Als die beiden sich am Abend in der Loge der Marquise d’Espard begegnen, geht die gegenseitige Entzauberung in die letzte Runde. Lucien, der es mit seinem Outfit gleich übertrieben hat und frisiert ist „wie ein Heiliger in einem Passionsspiel“, findet seine einstige Angebetete neben den feschen Pariserinnen nicht mehr so dufte: „eine große, trockene, verblühte Frau, mit zu erhitztem Gesicht und zu rotem Haar, eine knochige, gewundene, anspruchsvolle, gezierte Frau, die mit jedem Wort die Provinzialin verriet und vor allem schlecht angezogen war. (…) Lucien, der sich schämte, dieses Knochengerüst geliebt zu haben, beschloß, den ersten Tugendanfall seiner Louise abzuwarten und sie dann zu verlassen.“

Dazu kommt er allerdings gar nicht, den die Loge wird nun von den krassesten Dudes geflutet, die in der Hauptstadt von sich reden machen. Man freut sich, alte Bekannte zu treffen, endlich kann man die Früchte der Lektüre von dreißig gelesenen Bänden ernten. Es treten auf: Felix de Vandenesse, der General Montriveau, der gefeierte Dichter Canalis, sowie einer unserer Lieblinge, der Dandykönig de Marsay, der sich nicht zu schade ist, Lucien aus zwei Schritt Entfernung durch seinen Lorgnon zu mustern.
Einerseits hat man Mitleid mit dem armen Dichterlein, das nun gründlich zerlegt wird. Da helfen ihm auch seine blonden Löckchen nicht mehr. Auch seine einstige Beschützerin fällt von ihm ab, als sie den Anmaßenden dabei erwischt, wie er der Marquise d’Espard verliebte Blicke zuwirft. Die spielt die Lässige, stürmt aber sofort aus der Loge, als sie vom ebenfalls anwesenden Rastignac erfährt, dass Lucien der Sohn eines Apothekers ist. Also bitte! Louise eilt ihr in hündischem Gehorsam nach, der kleine Dichter merkt erst nach dem 3. Akt, dass er allein in der Loge ist.

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2 Gedanken zu “Verlorene Illusionen, Teil V

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