Siebenunddreißig. Nach dem ersten Schreck, weil man gerade noch Mitte zwanzig war, folgt direkt die gewohnte Entspannung. Rückblickend war jedes Lebensjahr wild und schön und anstrengend, aber es tut vor allem gut, dass man es überstanden hat. Nicht auszudenken, nochmal die romantische Sturm & Drang – Phase durchmachen zu müssen, mit all den unvermeidlichen Psychosen wie Verliebtsein und Trennungsschmerz. Für sowas sind die Organe einfach nicht geschaffen, Magen, Leber und Hirn können ein Lied davon singen, wie hoch das vermaledeite Herz den Preis getrieben hat.
Und auch wenn daran niemand mehr glaubt, hat es durchaus noch Vorteile, als alter, weißer Mann zu erwachen. Man wird durch ein leichtes Klopfen an der Schlafzimmertür geweckt. Nachdem man die Cognac-verklebten Augen aufgekriegt hat, wird man seiner strahlenden Tochter ansichtig, die ein Geburtstagslied singt und einen an der Hand ins Wohnzimmer an den Gabentisch führt. Selbstgemalte Bilder, Traumfänger und ein sogenannter „Schni-Schna-Schnappi“. Dazu eine Torte, die aus aufgehäuftem Holzobst besteht, das vom Kind in das umgedrehte, gelbe Ziffernblatt der Lernuhr geschichtet wurde. Mineralwasser aus Martini-Gläsern. So betrachtet, ist das Leben gar nicht so übel.
BAND 26: Beatrix, S. 81 – 110
Bevor der Baron bei Fräulein des Touches eintrifft, erfährt man einiges über ihre Geschichte. Durch die Wirren der Revolution zur Waise gemacht, wurde sie früh zu einem kultivierten Onkel gegeben. Bei ihm wächst sie zum uomo universale heran, beherrscht bald mehrere Sprachen und Instrumente, liest jedes Buch, das ihr vor die Flinte kommt. Mit Anfang zwanzig ist sie im Besitz des gesamten Vermögens ihrer Familie, hat erfolgreiche Opern komponiert und Stücke geschrieben. Das einzige Gebiet, auf dem sie sich nicht auskennt, ist die Liebe, was jedoch nicht als Mangel erscheint: „Ihr überlegener Geist lehnte sich auf gegen den stummen Verzicht, mit dem das Weib in die Ehe tritt.“
Nach zwei Affären, die beide nicht gut für sie ausgehen, beschließt sie, ihr Leben nur noch der Kunst zu widmen, was von der Gesellschaft zuerst schief beäugt, dann jedoch akzeptiert wird.
Nachdem man diese Hintergrundinfos bekommen hat, geht es an die Beschreibung des Äußeren von Félicité. Balzac überbietet sich dabei wieder selbst, it never gets old:
„Die Hornhaut [der Augen] ist weder bläulich noch rotgeädert, noch ist sie rein weiß; aber sie hat einen warmen Ton. Die Pupille ist orange umringt. Sie ist wie Bronze von Gold umsäumt – aber lebendige Bronze, beseeltes Gold. (…)
Die Nase ist schmal und gerade, die Nasenflügel sind schräg geschnitten und ziemlich stark gebläht, so daß die zarte, hellrot schimmernde Innenwandung sichtbar wird. (…) Die Nasenspitze ist von seltsamer Beweglichkeit und wirkt in Augenblicken der Erregung wahre Wunder. (…)
Das Kinn tritt kräftig hervor. Es ist ein wenig dick (…)
Der Ansatz der Arme scheint in seinem stolzen Umriß einem Kolossalweibe anzugehören. Die Arme selbst sind stark modelliert und enden in Handgelenken von englischer Zierlichkeit. Die winzig kleinen Grübchenhände schmücken rosige, mandelförmig geschnittene Nägel“
Und so weiter. Das Wesen, das dadurch vor dem inneren Auge des Lesers entsteht, hat etwas ulkig Alptraumhaftes. Vor allem das starke, mächtige, dicke Kinn scheint es dem Meister angetan zu haben, fast alle bisherigen Frauenfiguren besitzen eins.
Und dieses grazile Kolossalweib sitzt nun tagein tagaus auf seinem Landgut Les Touches, spielt Piano, singt und empfängt Gäste. Genau wie das schroffe, von Salzseen geprägte Terrain am äußersten Rand des Kontinents, bietet sie einen erhabenen Anblick: „Dieses Schauspiel beflügelt die Gedanken, wenn es auch das Herz beschwert – eine Wirkung, die das Erhabene auf die Dauer stets hervorruft. Denn alles Erhabene flößt der Seele die schmerzliche Sehnsucht nach dem Unbekannten ein, das sie auf den Höhen ihrer Verzweiflung ahnungsvoll erschaut.“
Auf jeden Fall kann man verstehen, dass der kleine Calyste lieber bei der Schriftstellerin herum hängt, statt mit einer mürrischen Clique von Tattergreisen Karten zu kloppen.
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