BAND 25: Eine Evatochter, S. 26 – 51
Felix de Vandenesse hatte mit dreißig genug von seiner Datingphase. Die vielen Affären (u.a. mit der kreolischen Kröte Natalie von Manerville aus Der Ehekontrakt) haben ihn für die Ehe sturmreif geschossen. Und wer würde sich als Partnerin für die neue Phase besser eignen, als ein unschuldiger Engel wie Marie Angelika de Granville? Ihr widmet er fortan seine ganze Aufmerksamkeit: „Er erklärte seiner Frau langsam und mit großem Geschick alle Verhältnisse des Lebens, weihte sie Schritt für Schritt in die Geheimnisse der hohen Gesellschaft ein, (…) war ihr Berater in der Kunst der Toilette und der Unterhaltung, führte sie von Theater zu Theater, ließ sie einen Literatur- und Geschichtskurs durchmachen. Diese Erziehung vollendete er mit der Sorgfalt des Liebhabers, des Vaters, des Herrn und Gatten. (…) Kurz, er führte sein Unternehmen mit vollendeter Meisterschaft durch.“
Was heute als widerlicher Fall von „Mansplaining“ gebrandmarkt würde, funktioniert gut. Im Gegensatz zu ihrer Schwester Eugenie, die unter der Tyrannei ihres Parvenü-Gatten du Tillet zittern muss, verlebt Angelika mit Felix paradiesische Jahre. Doch wie es so ist, wird auch das Glück auf Dauer langweilig: „Seine Frau fand ein so trefflich geordnetes Eden schließlich etwas eintönig. Das vollkommene Glück, das die erste Frau im irdischen Paradies empfand, rief bei ihr jene Übelkeit hervor, die der Genuß alles Süßen auf die Dauer hervorruft.“
„Sein verwüstetes, zerstörtes Gesicht gibt ihm ein Gepräge, als hätte er mit Engeln oder Teufeln gekämpft. Es gleicht dem Antlitz des toten Heilands, wie ihn die deutschen Meister darstellen (…) Seine durch Ausschweifungen gegerbte Haut spannt sich darüber, wie von inneren Gluten gedörrt, (…) Dieser schlecht gekämmte, schlecht gebaute Byron hat die Beine eines Reihers, knotige Knie und eckige Hüften. Seine mit Muskeln bespannten Hände sind fest wie Krabbenfüße, mit hageren, nervösen Fingern.“
Bei diesem reizenden Kerlchen handelt es sich um den jungen Schriftsteller Raoul Nathan, der aufgrund der gerade vorherrschenden Republik-Freundlichkeit Zugang zum Salon der Frau von Montcornet hat. Wie schon bei der Beschreibung des Dichters Canalis in Modeste Mignon geht Balzac erfreulich streng mit seinem jungen Kollegen ins Gericht: „Vom literarischen Standpunkt fehlt es Nathan an Stil und Bildung. Wie die meisten ehrgeizigen Jungen in der Literatur, gibt er heute zum besten, was er gestern gelernt hat. Er hat weder Zeit noch Geduld zum Schreiben; (…) Unfähig, einen soliden Plan zu zimmern, rettet er sich vielleicht durch den Schwung seiner Zeichnung. Er macht in Leidenschaft, wie es in der Literatursprache heißt, denn in Dingen der Leidenschaft ist alles wahr;“
Jeder, der schon mal einen Poetry Slam besucht hat und Zeuge eines Vortrags des obligatorischen Emo-Mädchens wurde, in dem es den Selbstmord eines engen Freundes beklagt, weiß, was der Meister meint. Heute heißt das „Erpressertext“, damals hieß es „in Leidenschaft machen“. Versteht sich von selbst, dass die von zielloser Sehnsucht geplagte Angelika diesem Futzi auf den Leim gehen muss: „Sein erborgtes Republikanertum gab ihm augenblicklich jene jansenistische Strenge, die die Verteidiger der Sache des Volkes annehmen, obwohl er sich innerlich über sie lustig machte. Aber diese Strenge ist nicht ohne Reiz für die Frauen. Sie tun ja gern Wunder, sprengen Felsen und schmelzen Charaktere, die von Erz zu sein scheinen.“
Mal sehen, was der arme Felix dazu sagen wird.
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