Das hohe Arbeitspensum nimmt langsam bewusstseinserweiternde Formen an. Da eigentlich keine Freizeit mehr stattfindet (ohnehin ein lästiger Schwebezustand), verweilt der Geist dauerhaft in den Welten der Comédie und des derzeitigen Biographie-Projektes. Man kommt auch zu einem gewissen Grad der störungsanfälligen Realität abhanden. Verspätungen und Ausfälle im öffentlichen Nahverkehr – früher Anlass für Ärger und Frust – werden nun genutzt, um die sich täglich erneuernde ToDo-Liste abzuarbeiten. Ob zuhause auf dem Sofa oder in der vollgekotzten, von krakeelenden Spinnern bevölkerten U8: Balzac schirmt ab.
Natürlich stellen sich auch Verschleißerscheinungen ein. Andauernde Zerstreutheit, schlaflose Nächte, körperliche Erschöpfung. Gesund kann das auf Dauer nicht sein, schon gar nicht, wenn es einem an der baumstarken Konstitution des Meisters mangelt. Vielleicht sollte man auch langsam auf dessen bewährte Mokka-Mischung zurückgreifen. Andererseits muss man ja seine hundert Bücher nicht unbedingt wie Balzac in zwanzig Jahren schreiben. Vielleicht kann man die Sache entspannter angehen und sich dreißig Jahre Zeit nehmen.
BAND 23: Die Entmündigung, S. 71 – 109
Noch bevor Popinot seinen Besuch beim Marquis d‘Espard machen kann, um endlich Licht in die Angelegenheit zu bringen, kriegt er ominösen Besuch: „Am andern Tage stieg eine dicke Dame, die einem Faß glich, dem man ein Kleid und einen Gürtel umgetan hatte, um vier Uhr nachmittags schwitzend und schnaufend die Treppe zu dem Richter Popinot hinauf. (…) Ihr umfangreicher Busen reizte zum Lachen und ließ bei jedem Hustenanfall eine groteske Explosion befürchten. Sie hatte die dicken Beine einer Frau, von der die Pariser Gassenjungen sagen, daß sie auf Grundpfählen errichtet ist. Die Witwe hatte ein grünes, mit Chinchilla besetztes Kleid an, das ihr zu Gesicht stand wie ein Fettfleck dem Hochzeitsschleier einer Jungvermählten.“
Es handelt sich um Frau Jeanrenaud, die Begünstigte der rätselhaften Zahlungen des Marquis‘. In atemlosem Arbeiterfranzösisch beteuert sie, dass dieser ein Engel ist und sie lieber die ganze Million zurückzahlen würde, als dass er irgendwie Schaden nimmt.
Popinot sucht daraufhin den Marquis auf und erfährt die Wahrheit: Das Vermögen der Familie d‘Espard stammt aus Enteignungsprozessen aus der Zeit der Hugenottenverfolgung. Um seinen Namen und den seiner Söhne reinzuwaschen, hat der Marquis die Erben der Benachteiligten (und zum Teil Hingerichteten) ausfindig gemacht – die Witwe Jeanrenaud und ihren Sohn – und sie in vollem Umfang entschädigt. Es stellt sich außerdem heraus, dass die Marquise von diesem Entschluss wusste, ihr angestrebter Entmündigungsprozess also ein fieser Trick war, um an das Vermögen ihres Gatten ranzukommen.
Für den Altruisten Popinot ist damit alles gesagt. Er und der Marquis schütteln sich die Hände: „Diese beiden Naturen, so voll und reich, der eine bürgerlich und erhaben, der andere adlig und großdenkend, hatten sich unmerklich geeinigt, ohne Gewalt, ohne Leidenschaftsausbruch, wie wenn zwei reine Flammen miteinander verschmelzen.“
Sieht so aus, als müsste die Marquise ihre Hobbies anders finanzieren. Vielleicht wird Rastignac ja in die Bresche springen. Als Leser weiß man nun jedenfalls für zukünftige Begegnungen wes Geistes Kind sie ist.
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