BAND 14: Vater Goriot, S. 145 – 191
Eigentlich könnte das Buch auch „Die Verführung Rastignacs“ heißen. Kaum war nämlich der Schneider bei ihm, beginnt er zu wanken: „Als Rastignac sich in seinen neuen Kleidern mit eleganten Stiefeln und Handschuhen sah, waren seine tugendhaften Entschlüsse schnell vergessen. Wenn die Jugend vor einer Ungerechtigkeit steht, so wagt sie es nicht, in den Spiegel des Bewußtseins zu blicken, während das reife Alter sich schon oft darin besehen hat.“
Das kann man bestätigen. Mit zwanzig war man voll und ganz von Raymond Chandler gefangen und von seinem Detektivtypus des unbestechlichen Raubeins. In jeder schwierigen Situation fragte man sich: Was würde Phil Marlowe jetzt tun?
Rastignac wird von seiner adligen Cousine mit in die Oper genommen, wo er prompt auf Delphine de Nucingen trifft, das Ziel seiner Hoffnungen. Er flirtet mit ihr, segelt ziemlich hart am Wind, und hat am Ende das Gefühl, sie bereits erobert zu haben. Balzac kommentiert lakonisch: „Der arme Student ahnte nicht, wie zerstreut die Baronin war, weil sie von de Marsay [ihrem anderen Lover] einen jener entscheidenden Briefe erwartete, die die Seele zerreißen.“
So ist es oft im Leben. Kaum hat man das Gefühl, es würde ganz gut laufen, arbeiten die Dinge längst gegen einen.
Zurück in der Pension sucht Rastignac den alten Goriot auf, um ihm haarklein alles zu berichten. Das war so vereinbart, um die etwas unheimliche Liebe des Vaters zu befriedigen: „Das tut mir gut. Es ist doch mein Fleisch und Blut! Ich liebe die Pferde, die sie fahren, und möchte das Hündchen sein, daß sie auf ihrem Schoß halten.“ Es folgt ein langes Plädoyer für die Vaterschaft. Balzac ist sich dabei nicht zu schade, die abgenudeltsten Klischees zu bemühen. So nach dem Motto: Wenn man Kinder hat, erlischt angesichts dieser göttlichen Wesen die Bedeutung der eigenen Existenz. Vielleicht hätte er selbst mal eins zeugen sollen, um diese These auf den Prüfstand zu stellen. „Eines Tages werden Sie begreifen, daß das Glück der Kinder wesentlicher ist und glücklicher macht als das eigene.“ Da ist man gern Spielverderber und sagt: Das eigene Glück macht einen immer noch am glücklichsten. Sorry, not sorry.
Als Rastignac am nächsten Tag Delphine besucht, wirkt sie verzweifelt. Es dauert, bis sie mit der Sprache herausrückt. Erst in der Kutsche vor dem Palais Royal gesteht sie, dass sie Geld braucht. Sie gibt Rastignac hundert Francs, die er ihm Spielkasino zu sechstausend machen soll. Dabei weiß man doch, dass Frauen ungern Geldgeschenke annehmen. Siehe Polina Alexandrowna. Doch Rastignac lässt sich nicht lumpen und erspielt in zwei Zügen den benötigten Betrag. Dramaturgische Notwendigkeit ist der beste Begleiter beim Roulette.
Delphine geht über vor Dankbarkeit, verweigert dem entflammten Rastignac jedoch einen Kuss. Das stimmt ihn etwas muffig, verständlicherweise. Trotzdem ist er noch immer entschlossen, „den Eingebungen seines Gewissens zu folgen.“
Beste Stelle:
Wenn Rastignac seinen Freund Bianchon in einer moralischen Frage konsultiert:
„,Erinnerst du dich jener Stelle, wo er [Rousseau] den Leser fragt, was er täte, wenn er, ohne Paris zu verlassen, reich werden könnte, indem er durch einen bloßen Akt seines Willens einen alten Mandarin in China töten würde?‘
,Ja.‘
,Nun, und?‘
,Ach! Ich bin schon bei meinem dreiunddreißigsten Mandarin.’“
Pingback: Vater Goriot, Teil III | CLINT LUKAS
Pingback: Vater Goriot, Teil V | CLINT LUKAS