Vater Goriot, Teil III

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Um halb sechs in der Frühe wird man von seiner Tochter geweckt. Plötzlich steht sie mitten im Zimmer, die Hände in den Hüften, und beschwert sich, dass sie am Wochenende nie ausschlafen kann. Jeden Tag, wenn sie müde zur Schule muss, würde sie sich darauf freuen, aber wenn es dann so weit wäre, könnte sie die Augen nicht mehr geschlossen halten. Man will ihr erklären, dass Freiheit nun mal belebend wirkt, aber sie ist bereits spielen gegangen.
Wenn man selbst als Kind in den Ferien bei seiner Oma übernachtete, hatte man das gleiche Problem. Es wurde als anstrengend empfunden, dass man jeden Tag gegen halb sieben auf der Matte stand. Also lag man fortan reglos im Bett, den Blick auf ein kleines Belüftungsfenster im unteren Drittel der Tür gerichtet. Sobald man die Füße der Oma auf dem Weg ins Badezimmer vorbeigehen sah, wartete man noch zwei endlose Minuten, dann stand man auf.
Auch heute noch ist der Morgen für einen die produktivste Zeit. Ganz einfach, weil das Gehirn ausgeruht ist. Im Laufe des Tages wird es dann durch die Mangel gedreht, in erster Linie durch die Anwesenheit anderer Menschen. Wenn diese sich unauffällig verhalten würden, still wären, wenn man selbst still ist, hätte man kein Problem mit ihnen. Leider ist das nur selten der Fall. In Berlin Wedding gibt es mehr so die Exemplare, die im Zickzackkurs über den Gehweg wanken und dabei laut und andauernd in ihr Handy schreien. Früher hat man sich gefragt, mit wem diese Schreihälse eigentlich telefonieren. Heute weiß man: die eine Hälfte von denen telefoniert mit der anderen.

BAND 14: Vater Goriot, S. 99 – 144

Zurück in der versifften Pension verspürt Rastignac den überwältigenden Drang, reich und mächtig zu werden. Zu stark ist der Kontrast zu den edlen Salons, die er gerade besucht hat. Er erklärt, dass Vater Goriot von nun an unter seinem Schutz steht, was ihm spöttische Kommentare des jovialen Vautrin einbringt. Der „sah Rastignac väterlich und verächtlich zugleich an, als wenn er sagen wollte: Närrchen! ich könnte dich mit einem Bissen runterschlucken.“
Die Anspielungen häufen sich, man wird neugierig, wer Vautrin wohl in Wirklichkeit ist. Zunächst einmal schreibt Rastignac jedoch Briefe an seine Mutter und die sieben Schwestern, in denen er sie um Geld bittet. Er schämt sich, weil er weiß, wie arm sie sind und erkennt, dass er im Grunde genauso schlimm wie die verwöhnten Goriot-Töchter ist.
Als das Geld von einem Boten gebracht wird, befinden sich die Pensionäre gerade beim gemeinsamen Mittagessen. Vautrin findet wieder Gelegenheit, den Ehrgeizigen zu foppen, worauf dieser aus dem Koffer hüpft. Die beiden gehen nach draußen, man fürchtet schon, sie würden sich duellieren. Stattdessen offenbart sich Vautrin in einem mehrseitigen Monolog als eine Art Mephistopheles: „Ich bin gegen jene gut, die gegen mich gut sind oder deren Herz zu mir spricht. Denen ist alles erlaubt, sie können mich mit Fußstößen traktieren, ohne daß ich ihnen sage: Nimm dich in acht! Aber in Dreihenkersnamen, ich bin wie der leibhaftige Teufel gegen jene, die mich drangsalieren oder mir nicht passen. Ich will es Ihnen von vornherein sagen, daß es mir so wenig darauf ankommt, einen Menschen zu töten wie auszuspucken (…) Aber ich gebe mir Mühe anständig zu töten, wenn es unbedingt sein muß. Ich bin ein Künstler in meiner Art.“
Er ist erstaunlich gut über Rastignacs Probleme unterrichtet und hat auch schon einen Masterplan, sie zu lösen. Nur darf man bei der Wahl der Mittel nicht zimperlich sein. „In diese Menschenmasse muß man einschlagen wie eine Kanonenkugel oder sich hineinschleichen wie eine Seuche.“ Er will Rastignac eine Million Franken in Form einer Mitgift verschaffen, von denen er selbst nur zwanzig Prozent für sich beansprucht. Dabei geht es ihm nicht ums Geld, sondern vor allem darum, der Gesellschaft seinen Stempel aufzudrücken, indem er Rastignac zum Erfolg verhilft. Der hat allerdings Skrupel und will sein Glück lieber mit ehrlicher Arbeit machen. Vautrin grinst und gibt ihm vierzehn Tage Bedenkzeit.

Beste Stelle:

Wenn Vautrin erzählt, was er mit seinem Anteil der Beute vorhat: „Meine Idee ist, ein patriarchalisches Leben auf einem großen Landgut von etwa hunderttausend Morgen in Südamerika zu führen. Ich will dort Pflanzer werden, Sklaven halten und einige Millionen durch den Verkauf von Tabak, Ochsen und Holz verdienen; (…) Heute besitze ich fünfzigtausend Franken, das würde nur für vierzig Neger langen. Ich brauche zweimalhunderttausend, weil ich zweihundert Neger haben will, um mein Verlangen nach einem patriarchalischen Leben zu befriedigen. Sehen Sie, Neger sind Kinder, mit denen man tun kann, was man für richtig hält, ohne daß ein neugieriger Staatsanwalt Rechenschaft von jedem Schritt fordert.“
Was heute ein wenig aus der Zeit gefallen klingt, war damals vermutlich ein handfester Businessplan. Siehe amerikanischer Südstaatenadel.

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2 Gedanken zu “Vater Goriot, Teil III

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