Die doppelte Familie, Teil III

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Heute zum ersten Mal die Verlockung, einen Tag auszusetzen. Nach knapp vierzig Tagen, in denen einem die Stimme Balzacs ununterbrochen in den Ohren klingelt, kommt ein leichtes Gefühl von Lagerkoller auf. Wie am Arbeitsplatz, wo man ja auch jeden Tag die Kollegen sehen muss. Selbst die angenehmsten Menschen gehen einem irgendwann auf die Nüsse, wenn man mit ihnen zusammengepfercht wird. Man weiß noch, wie genervt man als Koch vom Serviceleiter war. Dass man mit ihm noch befreundet ist, liegt hauptsächlich daran, dass man den Job gekündigt hat.
Da die verschiedenen Balzac-Stories so oft Parallelen aufweisen, wähnt man sich auch manchmal neben dem Kneipen-Faktotum, das einem zum hundertsten Mal dieselbe Geschichte erzählt. Damit tut man dem Meister natürlich unrecht. Niemand zwingt einen, ihm jeden Tag eine Stunde zu widmen. Wobei damit ja nur die Lektüre abgedeckt ist. Um den Beitrag zu schreiben, braucht man nochmal ein bis zwei Stunden.
Aber man kennt leider die eigenen Gewohnheiten. Würde man einen Tag aussetzen, ginge gleich das ganze Projekt in die Binsen. Man kann nur ganz oder gar nicht. So war man zum Beispiel mal zwei Jahre lang Vegetarier, hat in diesem Zeitraum auch Coca Cola und andere einschlägige Hersteller boykottiert. Dann dachte man, man müsste hin und wieder die eigenen Dogmen brechen, um wirklich avantgardistisch zu sein. Also ging man an einem Karfreitag zu McDonald’s, aß Fleisch und trank Cola dazu. Es sollte dabei bleiben. Doch eine Woche später gönnte man sich Ente kross beim Chinesen. Und ehe man sich versah, war es vorbei mit dem Vegetarismus.

BAND 13: Eine doppelte Familie, S. 79 – 107

Die Ehe von Angelika und Roger nähert sich dem Punkt, an dem er ausbrechen muss und, wie man bereits weiß, eine Affäre mit Karoline anfangen wird. Denn seine Frau lässt ihn in all den Jahren nur ran, um ein paar Kinder zu zeugen, und selbst das nur mit jesuitischer Schreckensmiene. Dazu kommen ihre muffige Stubenhockerei und eine unfehlbare Geschmacklosigkeit: „Gab es in einem Modegeschäft einen einzigen Hut, der dazu verurteilt war, in der Auslage liegen zu bleiben oder in die Kolonien geschickt zu werden, so war Granville sicher, ihn auf dem Kopf seiner Frau zu sehen.“
Rogers Arbeit wird für ihn zur Ersatzhandlung für sein freudloses Liebesleben. Er bezieht im Haus eine eigene Wohnung und lässt sich immer seltener bei Angelika blicken. Tut er es doch, macht sie ihm süß-saure Vorwürfe. Diese Art von Verwandten hat vermutlich jeder. Sie beschweren sich, dass man sie nie besuchen kommt, aber wenn man da ist, interessieren sie sich überhaupt nicht für einen. Man könnte ihnen jeden beliebigen Menschen von der Straße aufs Sofa setzen und es würde keinen Unterschied machen. Bei einem selbst ist es unglücklicherweise der letzte noch lebende Großelternteil, der so tickt.

Angelikas Beichtvater setzt ihr irgendwann den Floh ins Ohr, dass ihr Mann fremdgehen könnte, woraufhin sie ihm folgt und sein Geheimnis lüftet. Es kommt zur großen Aussprache. Dabei schenkt Roger der Frömmlerin gnadenlos reinen Wein ein.
SIE: „,War ich nicht jung? Du fandest mich schön. Was hast du mir vorzuwerfen? Habe ich dich betrogen? War ich nicht eine tugendhafte, treue Gattin? In meinem Herzen stand nur dein Bild, meine Ohren hörten nur deine Stimme. Gegen welche Pflicht habe ich gefehlt? Was habe ich dir verweigert?‘ ,Das Glück‘, antwortete der Graf mit fester Stimme.“
NOCHMAL SIE: „.Eine Gattin muß nach meiner Auffassung einem Mann eine wahre Freundschaft, eine gleichmäßige Wärme anbieten und…‘
,Du sprichst von Wärme wie die Neger vom Eis’…“
Obwohl Balzac ziemlich deutlich macht, auf wessen Seite er steht, gönnt er seinem Grafen kein gutes Ende. Die Gattin siecht dahin, Karoline brennt mit einem anderen durch, die Kinder werden entweder zu Anwälten oder zu Verbrechern. Man fragt sich, was schlimmer ist. Zum Schluss kann Roger nur resümieren: „(…) die Geschehnisse des Lebens sind über mein Herz gegangen wie die Lava des Vesuv über Herculanum: die Stadt existiert noch , aber sie ist tot.“

Beste Stelle:

Der prägnante Auszug aus dem Alltag der Eheleute, die nur noch über die Dienerschaft kommunizieren:
Gegen acht Uhr morgens klingelte eine Kammerfrau, die einige Ähnlichkeit mit einer Nonne hatte, an der Wohnung des Grafen von Granville, wurde in den Salon geführt, der vor dem Kabinett des Anwalts lag, und überbrachte dem Kammerdiener, stets in demselben Ton, die Botschaft von oben: ,Die Frau Gräfin lässt fragen, ob er die Nacht gut verbracht hat und ob sie das Vergnügen haben wird, ihn beim Frühstück bei sich zu sehen?‘
,Der Herr Graf‘, wiederholte der Kammerdiener, nachdem er sich bei seinem Herrn erkundigt hatte, ,legt der Frau Gräfin seine Ehrfurcht zu Füßen und bittet, ihn gütigst entschuldigen zu wollen“.

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2 Gedanken zu “Die doppelte Familie, Teil III

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