Zum Mittagessen im „Le Train Bleu“. Französische Küche in zwei riesigen barocken Sälen, die man über die Haupthalle des Gare de Lyon erreicht. Schon auf dem Weg dorthin Hunderte gestrandeter Reisender. Bahnstreik und Sturm. Auch im feinen Restaurant geht es gedrängt zu, alle Plätze für nicht speisende Gäste sind belegt. An den Wänden sitzen überdies Menschen auf ihren Koffern und nehmen an Ort und Stelle Kaffee, Wein und dicke Scheiben Foie gras zu sich.
Auch die Tische im Speisebereich sind fast ausnahmslos besetzt. Erneute Bestätigung, dass die Franzosen einen großen Teil ihrer Zeit im gastronomischen Rahmen verbringen. Brudervolk. Es geht geschäftig zu, fast sämtliche Speisen werden am Tisch endzubereitet. Beef Tartar, Tranchen von der Lammkeule, Crêpe Suzette, rotglasierte, birnenförmige Rührkuchen, die vom Kellner halbiert und mit Rum getränkt werden.
Die eigene Praxis, die Teile der Bestellung, die man mangels Sprachkenntnis nicht auf Französisch durchgeben kann, stattdessen auf Englisch mit französischem Akzent zu äußern, verursacht Irritation. Die Bedienung dauert daraufhin demonstrativ länger als an den französisch besetzten Nachbartischen. Und dabei will man doch im Restaurant immer einen souveränen Eindruck vermitteln. Erst durch ein üppiges Trinkgeld ist der majestätische Kellner einem wieder gewogen. Man muss sich mit diesen Wächtern der Glückseligkeit gut stellen.
BAND 6: Der Eintritt ins Leben, S. 101 – 150
Die Reisegesellschaft erreicht das Schloss des Grafen von Sérisy erst, nachdem der Gipfel der Peinlichkeit erreicht wurde. Um sich wichtig zu machen, behauptet der junge Oscar Husson, er würde den Grafen kennen und plaudert aus dem Nähkästchen über dessen Hautkrankheit. Die sei so abstoßend, dass die Gräfin von Sérisy gar nicht anders könne, als mit anderen Männern ins Bett zu steigen. Dem Grafen platzt daraufhin der Kragen. Er gibt sich zwar nicht zu erkennen, steigt aber aus und zeigt, dass er ziemlich genau über die anderen Fahrgäste bescheid weiß. Obwohl diese einen Liter Bordeaux und zwei Flaschen Champagner im Turm haben, werden sie schlagartig wieder nüchtern.
Während Oscar, Georges und die beiden Maler mit ungutem Gefühl im Schloss einchecken, schleicht sich der Graf auf Umwegen dorthin und plant seinen Gegenschlag. Es ist nicht der Verrat seines Verwalters Moreau, der ihn am meisten wurmt. Sondern die Gewissheit, dass dieser es war, der die Intimitäten über das nicht vorhandene Sexleben des Grafen und seiner Gattin ausgeplaudert hat: „Als der Minister und Pair von Frankreich den stillen Waldweg einschlug, weinte er, wie nur junge Leute weinen. Es waren die letzten Tränen, die er vergoß. Dieser beherrschte Mann war in seinen Tiefen so erschüttert und aufgewühlt, daß er sich wie ein verwundetes Tier in seinem Park verbarg.“
Vermutlich jeder, dem schon mal die Hörner aufgesetzt wurden, kann die Reaktion des Grafen gut nachvollziehen. Man wünscht sich geradezu, dass er Feuer über die Lästerer regnen lässt. Und genau das scheint nun auch zu passieren: „Wie eine Bombe war der Graf ins Haus geplatzt.“
Zunächst schließt er seinen Deal über den Landkauf wie gewünscht ab, schließlich ist er seinen Betrügern zuvor gekommen. Dann knöpft er sich seine Mitreisenden vor: Die beiden Maler kommen glimpflich davon, wir erfahren nur, dass Hippolyte Schinner gar nicht er selbst ist, sondern dessen Gehilfe Joseph Bridau, der sich für seinen Meister ausgab. Auch der Dandy-Schreiber Georges bekommt nur eine Standpauke, begreift dabei jedoch, dass er seine Karriere als Notar selbst den Bach hinunter gespült hat. Der Verwalter Moreau wird mitsamt Frau und drei Kindern nach siebzehn Jahren Dienst standrechtlich entlassen. Seine Wut darüber lässt er zurecht an Oscar aus: „Auf die Knie! auf die Knie! Unglückswurm! bitte den Grafen um Verzeihung, der sich deiner angenommen und dir einen Freiplatz in der Schule verschafft hat!“
Szenenwechsel. Die Eltern des unglückseligen Oscar sitzen gerade beim Abendbrot. Der Vater ergeht sich in Tiraden, was für einen Trottel von Sohn sie eigentlich großziehen. Die Mutter hält tapfer dagegen: „Kann dieses arme Kind es dir denn nie recht machen? Was hat er dir denn getan? Wenn es uns eines Tages gut gehen wird, werden wir es sicher ihm zu danken haben, denn er ist ein guter Junge.“ Wait for it, denkt man feixend.
Pingback: Der Eintritt ins Leben, Teil IV | CLINT LUKAS
Pingback: Der Eintritt ins Leben, Teil II | CLINT LUKAS