Ankunft in Paris / Charles de Gaulle um neun Uhr in der Frühe. Keinerlei Corona-Kontrollen, nicht mal stichprobenartig. Dafür freundliche Lakaien, die dem Reisenden bei der Bedienung der Fahrkartenautomaten zur Hand gehen. Fahrt bis Notre-Dame, Umstieg in die Metro, am Invalidendom Ausstieg. Kurze Aufwartung am Sarkophag von l’Empereur Napoleon.
Die Gastgeberin Vénus besteht auf persönlicher Begrüßung im Airbnb-Apartment, erste Möglichkeit, die eingerosteten Französisch-Kenntnisse zu erproben. Das „Maison de Balzac“ ist nur einen halben Kilometer entfernt, doch vor dem Meister muss man zuerst seiner Heimat die Auwartung machen. Spaziergang durch die Tuillerien, vorbei an Justizpalast und Conciergerie, alles Schauplätze bisheriger Balzac-Bände. Baguette, Camembert, Kronenbourg-Bier. Das Leben ist so schön, wie man es sich einrichten kann.
BAND 6: Der Eintritt ins Leben, S. 1 – 50
Man befindet sich im Jahr 1822 und zum ersten Mal in einer Sphäre unterhalb des Adels und der reichen Kaufleute, nämlich in der Branche der Postkutschen-Betreiber. Herr Pierrotin, der die Strecke zwischen Paris und dem Dörfchen l’Isle Adam bedient, steht im Hof eines Gasthauses und grübelt, wie er zweitausend Francs für eine neue Kutsche auftreiben soll. Sämtliche Ersparnisse hat er schon zusammengekratzt, aber das reicht nicht. Zum Vergleich: Im letzten Roman war eine Mitgift von NUR 200.000 Francs ein Grund, um eine Hochzeit auszuschlagen.
Noch während Pierrotin sich beschwert, dass er für die nächste Tour erst vier Fahrgäste hat, kommt ein Diener des Comte de Sèrisy und reserviert einen Platz für seinen Herrn. Der könnte sich natürlich auch einen Mietwagen leisten, will jedoch inkognito reisen. Gerade als man sich freut, dass es mal um die einfachen Leute geht, tritt damit wieder eine adelige Hauptfigur auf den Plan.
Es folgt ein biographischer Abriss, wie der Graf sich durch die Wirren von Revolution und Kaiserreich manövriert hat und dabei zum Pair von Frankreich wurde: „In politischen Dingen geschah nichts Wesentliches, ohne daß er befragt wurde, aber er ging niemals zu Hofe und ließ sich selbst in seinen eigenen Empfangsräumen nur selten sehen. (…) Aber niemand, abgesehen vom Mönch oder Priester entschließt sich zu einer derartigen Lebensführung ohne ernsthafte Gründe. Auch Sérisy fehlten sie nicht.“
Der originelle Grund für seine Zurückgezogenheit: der arme Graf ist in seine Gattin verliebt, die schöne Comtesse de Sèrisy, die ihn zwar respektiert, aber nie ranlässt. Ihr zuliebe will er ein Stück Land bei l’Isle Adam kaufen, hat aber Grund zu der Annahme, dass sein mit dem Geschäft betrauter Verwalter Moreau ihn betrügt. Er fährt also heimlich selbst.
Bevor es losgehen kann, wechselt die Perspektive vom allwissenden Balzac wieder zu Pierrotin, der ebenfalls Interesse am Verwalter Moreau hat, weil er sich von ihm tausend Franken für seine neue Kutsche leihen will. Er nimmt einen weiteren Fahrgast in Empfang, und Balzac beginnt den nächsten Absatz mit den berüchtigten Worten: „Einige Bemerkungen (…) sind notwendig, um die Szene zu begreifen, deren Schauplatz Pierrotins Wagen war.“
Hier endet die heutige Lektüre.
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