Man sitzt im Zug von München nach Berlin, nachdem man am Vorabend bei den Schwabinger Schaumschlägern aufgetreten ist. Der Schädel brummt und auch die Hinfahrt sitzt einem noch in den Knochen. Als man die Info „Außergewöhnlich hohe Auslastung“ erhielt, füllte man sich direkt einen Flachmann mit Scotch, der auch ein guter Begleiter war.
Auf dem Rückweg nun im Abteil für Schwerbehinderte gelandet. In Ermangelung schwerbehinderter Fahrgäste scheint der Reservierungs-Algorithmus die zweitbedürftigste Gruppe von Menschen hier angesiedelt zu haben: Eltern mit kleinen Kindern. Ein älterer Fahrgast in einer Vierer-Sitzgruppe, der so dreist ist, keine Kinder zu haben, wird direkt von einer rüstigen Mutter verscheucht. Applaudierende Blicke der anderen Brüter. Man spürt selbst schon die wachsende Aufmerksamkeit im Rücken, überlegt deshalb zu verkünden, dass man durchaus ein Kind und somit eine Daseinsberechtigung hat. Als man den Münchner Bahnhof verlässt, ist man bereits Zeuge folgender Unterhaltungen geworden:
„Oh, Bobo Siebenschläfer! Das haben wir auch. Stimmt’s Noah, das haben wir auch? Bobo Siebenschläfer kennst du doch! Nein, nicht die Banane ins Polster reiben!“
„Wie weit geht’s bei euch? Ach, echt? Nein, so weit müssen wir nicht. Wollt ihr ein Stück von unserem Zimt-Wuppie ab haben? Der ist ganz frisch, vom Bäcker.“
„Nein, Noah, ich hab doch gesagt, du sollst nicht auf den Knopf drücken! Jetzt kommt gleich der Schaffner, weil er denkt, dass hier ein Rollstuhlfahrer ist, der Hilfe braucht. Noah, nein!“
„Einen Cappuccino nicht, danke. Aber hätten Sie vielleicht eine heiße Milch für meine Tochter? Das wär klasse. Aber wenn’s geht, bitte nicht zu heiß die heiße Milch, ja?“
Man sitzt da und liest Balzac, der betätigte Notrufknopf gibt durchdringende Geräusche von sich. Nur noch fünf Stunden.
BAND 32: Die Lilie im Tal, S. 129 – 200
Im Grunde gibt es nichts Neues zu berichten. Felix pflückt weiter fleißig seine Blümchen für Henriette, betet sie an, sie genießt das, stößt ihn aber zurück. Manche Momente sind dabei mehr cringe als andere, zum Beispiel, wenn sie ihn bei der Weinlese wie eines ihrer Kinder behandelt, und er begeistert mitspielt: „Ihr Lachen war voller Jugend, als ich hinter ihrer Tochter kommend, auf den Korb zeigend, zu ihr sagte: ,Und ich, Mama?‘ Sie antwortete: ,Liebes Kind, erhitze dich nicht zu sehr.‘ Dann fuhr sie mir abwechselnd über den Hals und über die Haare, gab mir einen Schlag auf die Backe und fügte hinzu: ,Du bist ja so heiß!’“
Dann will sie allerdings wieder wie von einer Tante geliebt werden. Der Graf macht Stress, die Kinder sind krank, Felix schreibt anrührende Briefe. Man wünscht sich, dass er sich mal ein Hobby sucht, das wäre für alle Beteiligten äußerst angenehm. Aber nein, er lässt sich ein ums andere Mal zurückweisen: „Der Grönländer würde in Italien sterben. Ich bin ruhig und glücklich in Ihrer Nähe. Ich kann Ihnen alle meine Gedanken sagen. Zerstören Sie nicht mein Vertrauen. Warum haben Sie nicht die Tugend des Priesters und den Reiz des freien Mannes?“
Ja, warum nur, Felix, warum? Verdammter Chauvi.
Als er endlich nach Paris aufbricht, schreibt Henriette ihm einen Brief voller Ratschläge für die Großstadt. Mit wachsendem Ärger realisiert man, dass dieser Brief geschlagene 20 Seiten lang ist. Wo doch dieser ganze Roman schon ein angeblicher Brief ist. Ein merkwürdiges Genre. Wie darf man sich das vorstellen? Hat Felix Henriettes Brief in voller Länge für Nathalie abgeschrieben? Liegt er seinem Konvolut bei?
Jedenfalls bemuttert Henriette ihren Anbeter nach Strich und Faden. Er soll keine Salons besuchen, um Gottes willen nicht spielen, und vor allem: „Fliehen Sie die jungen Frauen. (…) Die Frau von fünfzig wird alles für Sie tun, die Frau von zwanzig nichts; (…) Spotten Sie über die jungen Frauen, betrachten Sie sie nur scherzhaft, denn sie sind unfähig, einen ernsten Gedanken zu fassen.“
Dann faselt sie weiter von ihrer Tante, man hat langsam genug von dieser bescheuerten Tante. Felix ist acht Monate lang unterwegs. Die Hundert Tage der Rückkehr Napoleons verbringt er neben dem König im Exil und steigt dadurch zu einem beliebten Höfling auf. Statt die Gunst der Stunde zu nutzen, kehrt er aber wieder zu Henriette zurück, und das Spiel geht von vorne los: „Denken Sie an mich,‘ sagte sie nach einer Pause, ,lassen Sie mich die Freude kosten, eine Seele, die ganz mir gehört, mit meinem Wesen zu erfüllen. Sind Sie nicht mein Sohn?‘ ,Ihr Sohn?‘ sagte ich schmollend. ,Nichts als mein Sohn,‘ sagte sie, sich über mich lustig machend; ,ist das nicht eine sehr schöne Stellung in meinem Herzen?’“
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